Die Insel oder Rechtfertigung des sinnlosen Reisens (German Edition)
seit der Einstellung der regelmäßigen Schiffsverbindung von Archangelsk über Kolgujew nach Narjan-Mar 1992 endgültig eingestürzt. Das Löschen der Ladung auf Reede erfolgt mit flachgehenden Lastkähnen, die anschließend mit dem Traktor auf den Strand gezogen und dort entladen werden. Nicht selten rutscht das Frachtgut ins Meer.
Hinter den Speichern liegt jenseits einer Schlucht »das alte Dorf«: 33 Wohnbaracken, die Schule, der Feldscher- und Hebammenpunkt, die Station der Satellitenkommunikation für das Nachrichten- und Fernmeldewesen, die meteorologische Station mitsamt dem Häuschen für dessen Leiter sowie das Hotel und das große Amtsgebäude, in dem sich Dorfverwaltung, Sowchosedirektion, Arsenal, Post und Klub befinden.
Jenseits der Brücke, die über den anderen Bach führt, beginnt »das neue Dorf«, bestehend aus 11 Wohnbaracken und dem Kindergarten, im Wesentlichen in den 1970er Jahren gemäß dem damaligen Generalplan zur Entwicklung Bugrinos errichtet. Gegenwärtig gibt es keinerlei Bautätigkeit. Privat Gebautes gibt es nicht auf der Insel (mit Ausnahme der überall in der Tundra anzutreffenden Jagdbaloks): den Einheimischen fehlt das nötige Geld dafür. Wie im Übrigen auch für Kommunalbauten.
Das architektonische Bild runden die allenthalben hinter den Baracken aufgeschlagenen Schuppen ab, in denen die Dorf bewohner Geräte, Lebensmittel, Werkzeug, Jagdausrüstung, Schlitten, Hundefutter usw. auf bewahren.
Ratten gibt es in Bugrino nicht.
Hinter der dritten Barackenreihe des alten Dorfs befindet sich das Brennstoff- und Schmiermittellager, die Dieselelektrostation sowie der Reparatur- und Maschinenstützpunkt der Sowchose, von dem in verschiedene Richtungen Geländefahrzeugspuren abgehen. Der sichtbarste Fahrweg führt ins Inselinnere zu den Baloks der Renhirten und weiter zum Sewerny-Leuchtturm.
Die Sowchose
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Wie alle hochspezialisierten Landwirtschaftsbetriebe ist auch die Sowchose Kolgujewski in rasantem Niedergang begriffen. Im Grunde besteht sie zum einen aus zwei Renhalterbrigaden (die neben den Tieren der Sowchose auch viele eigene weiden) und zum anderen aus einer Pelznäherei, in der Schuhoberleder und Fellkleidung hergestellt wird. Aber letztere kann man strenggenommen kaum noch als funktionierenden Produktionszweig der Sowchose bezeichnen: Die in den letzten Jahren drastisch zurückgegangenen Aufträge werden von einer Handvoll alter Frauen in Heimarbeit erledigt.
Eine Zeitlang gehörten auch eine Fischfangbrigade, eine Werkstatt, in der Häute von Meerestieren verarbeitet wurden, sowie eine Milchfarm zur Sowchose, aber diese Sparten wurden schon vor geraumer Weile wieder eingestellt. Zudem ist die Jagd auf Meeressäuger verboten. Aber auch die Renhaltung erzielt jetzt keine Gewinne mehr. Der einzige Abnehmer, die Fleischfabrik in Narjan-Mar, begleicht ihre Rechnungen mit halbjähriger Verspätung, was bei der gegenwärtigen Inflation die Sowchose in den Ruin treibt. Gäbe es auf der Insel eine Werkstatt zur Verarbeitung von Rentierbast, eine kleine Konservenfabrik oder irgendeine andere Fertigwarenproduktion, sähe die Lage nicht derart verzweifelt aus. Aber ohne Sohlen zum Beispiel ist es unmöglich, komplette Stiefel zu machen; ein Halbfertigprodukt wiederum, wie das auf Kolgujew hergestellte Oberleder, ordern in der momentanen ökonomischen Situation nicht einmal die traditionellen Abnehmer.
Um die Arbeitslosigkeit im Rahmen zu halten, hat die Inselverwaltung die meisten Sowchosearbeiter zu »Verwaltungsbeschäftigten« gemacht und bezahlt sie aus dem Kommunalbudget. Zu tun gibt es für diese »Beschäftigten« praktisch nichts, aber so haben sie immerhin ein Einkommen, und von Zeit zu Zeit kann man den einen oder anderen zu irgendeiner Reparatur oder Ähnlichem abstellen. Zugleich fehlt es auf Kolgujew an Facharbeitern: Traktoristen und Zootechnikern, doch wollen die meisten, selbst die jungen Leute, nichts lernen, nicht einmal das mit diesen Tätigkeiten verbundene Einkommen lockt sie.
Der Fuhrpark der Sowchose besteht de facto aus Schrott, da er kaum gewartet wird, außerdem wird betrunken und rücksichtslos gefahren. Von den 9 Traktoren und Geländefahrzeugen auf der Insel waren im August 1994 nur je eine Maschine einsatzfähig, ein zweites Geländefahrzeug ließ sich sporadisch in Gang bringen. Ersatzteile gibt es keine, und der einzige Weg, sie zu beschaffen, sind »Streifzüge« ins Mündungsgebiet von Kriwaja und Pestschanka sowie zum Sewerny-Leuchtturm, wo
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