Die Invasion - 5
Fallreeps seines Flaggschiffs. Das Wetter hatte sich geändert. Es war kälter als an den Tagen zuvor. Der Himmel war wolkenverhangen, und die nasse Kälte kroch durch sämtliche Kleidungsstücke. Baron Green Mountain hatte Cayleb versichert, spätestens zum Einbruch der Nacht werde es schneien. In einem Winkel seines Herzens wünschte sich Cayleb beinahe schon sehnsüchtig, der Schnee möge sich beeilen und endlich anfangen. Schließlich bekam man so etwas in Tellesberg nicht allzu oft zu sehen.
Bedauerlicherweise konnte Cayleb nicht länger bleiben, um auf die Schneeflocken zu warten. Tatsächlich hatte er schon anderthalb Fünftage mehr hier in Cherayth verbracht, als der Zeitplan ihm ursprünglich zugestanden hatte. Jetzt war der Hafen deutlich weniger überfüllt, denn Bryahn Lock Island war mit einem Großteil der Flotte und den chisholmianischen Galeeren, die man seinen Geleitschiffen zugewiesen hatte, bereits aufgebrochen. Die Kaiserin von Chans und der Rest ihres Geschwaders sollten keine Schwierigkeiten haben, die deutlich schwerfälligere Hauptmacht der Flotte einzuholen. Doch Cayleb kam es sonderbar vor, auf das Wasser der Cherry Bay hinauszublicken und keine charisianischen Transportschiffe vor Anker liegen zu sehen, und so wurde er allmählich ungeduldig. Diese zusätzliche Verzögerung seiner Abreise mochte ja keinen Unterschied bei der zeitlichen Planung seiner Invasion von Corisande machen (Cayleb wusste sogar, dass dem so war). Doch es fühlte sich einfach nicht so an.
Es war nicht so, dass es Cayleb gestört hätte, einige zusätzliche Tage in Sharleyans Hauptstadt verbracht zu haben. Viel Zeit hatte er im Gespräch mit Mahrak Sahndyrs, Königinmutter Alahnah und Sharleyans engsten Vertrauten aus dem Königlichen Rat zugebracht. Cayleb hatte miterleben dürfen, dass sich bei so manchem die eine oder andere innere Anspannung deutlich gelegt hatte ... vor allem nach seiner Rede vor dem Parlament. Selbst diejenigen, die Sharleyan besonders nahestanden, hatten ihrem neuen Kaiser zwangsläufig gewisse Ressentiments entgegengebracht. Cayleb machte niemandem einen Vorwurf daraus. Tatsächlich war er hocherfreut, ja, zugegebenermaßen sogar erstaunt darüber, wie rasch man sich in Chisholm von diesen Vorurteilen zu lösen vermocht hatte. Cayleb hatte sich ganz bewusst die Zeit genommen, in diese Richtung zu arbeiten. Schon deshalb hatte sich der längere Aufenthalt hier gelohnt. Doch das war nicht alles, was ihm mit der Hilfe von Green Mountain und Alahnah zu erreichen gelungen war.
Natürlich ist nicht jeder über meinen Besuch hier so erfreut, nicht wahr?, sinnierte er mit einer gewissen Schadenfreude.
Trotz des äußerlich zur Schau gestellten Enthusiasmus nach seinem Auftritt im Parlamentssaal hatte Caylebs Rede die schlimmsten Befürchtungen der chisholmianischen Aristokratie mehr oder minder deutlich bestätigt. Doch wenn der Adel bestürzt darüber sein mochte zu erfahren, wie sehr ihr neuer Kaiser die Ansichten von Chisholms Königin über das angemessene Gleichgewicht zwischen königlicher (beziehungsweise kaiserlicher) Autorität und der des Adels teilte, hatte man doch sorgsam darauf geachtet, das nicht zu offen zu zeigen. Die Bürgerlichen hingegen hatten auf Caylebs unmissverständliche Äußerungen diesbezüglich nachgerade überschwänglich - man könnte vielleicht sogar sagen: überglücklich - reagiert. Und ein Großteil der Unsicherheit oder gar Furcht, die manche Chisholmianer angesichts von Caylebs religiösen Ansichten gehegt hatten, waren deutlich besänftigt, wenn nicht sogar gänzlich zerstreut, nachdem er an der Seite der Königinmutter in der Kathedrale von Cherayth einigen Messen beigewohnt hatte. Den Hartgesottenen unter den Tempelgetreuen war es ohnehin egal, was er tat. Doch seine offenkundige Frömmigkeit hatte bei all jenen zu immenser Beruhigung geführt, denen die Propaganda der ›Vierer-Gruppe‹ und ihrer Anhänger Sorgen bereitet hatten, die dem Kaiser Ketzerei, Abtrünnigkeit und Shan-wei-Verehrung zur Last legten.
Wie wenig sie doch wissen!, dachte Cayleb, nun deutlich bitterer, als er zu den dunkelgrauen Wolken aufblickte, die über den stahlfarbenen Wassern der winterlichen Cherry Bay hinwegzogen. Wie wenig sie doch wissen!
Es fiel Cayleb in der Tat deutlich schwerer, die gesamte kirchliche Liturgie in ihrer vorgeschriebenen Abfolge über sich ergehen zu lassen. Das war so, seit er das Tagebuch von Sankt Zherneau gelesen hatte. So manches Mal schoss ihm durch
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