Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
ankommen.
Sie bewohnten die erste Etage einer Villa im Passeig de la Bonanova. Zur Haustür hoch führte eine Marmortreppe mit breiten Stufen und rotem Teppich. Rund ums Gebäude erstreckte sich ein Garten, sogar mit Tümpel und Kröte, den die drei Familien aus dem Haus sich teilten. Als wir ankamen, nahm Maribel mich wieder bei der Hand und wollte mir als Erstes mein Zimmer zeigen. Der Weg dahin erschien mir endlos und schmerzhaft, er führte durch eine Menge kaum oder gar nicht beleuchteter Räume. Wir Kinder aus der Casa de la Caritat waren die Dunkelheit gewohnt, also dachte ich mir, wenn sie einmal nicht auf mich achteten, würde ich mich in einem dieser Winkel verstecken, und sie würden mich nie mehr wiederfinden. Während wir durch den Flur gingen, öffnete sich eine Tür, und zwei Mädchen in Uniform schauten mich neugierig an.
Schließlich machten wir vor einer Doppeltür halt, und Maribel öffnete beide Flügel, mit einer übertrieben majestätischen Geste. Mir war, als blickte ich in eine neue Welt. Mit einem Mal war all mein Kummer verflogen. Dieses Zimmer war tatsächlich größer als der Schlafsaal, in den sie in der Casa de la Caritat alle Kinder zwischen sechs und zehn Jahren zusammenstopften. Entworfen und eingerichtet hatte man es voller Hingabe an den Nachwuchs. Es bestand aus zwei Teilen, und auf den Tapeten waren Märchenszenen abgebildet. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinsehen sollte. Da waren Hänsel und Gretel, die sich im Wald verlaufen hatten. Da war Rotkäppchen, die auf das Haus der Großmutter zulief, und hinter den Gardinen im Fenster zeichnete sich die Schnauze des Wolfs ab. In einer Ecke des Zimmers stand mein Bett, es war aus Holz und hatte die Form eines Piratenschiffs, mit einer geschnitzten Meerjungfrau als Galionsfigur. Die blaue Bettwäsche stellte die Wogen dar, und auf dem Stück Wand über dem Bett kümmerten sich Peter Pan und die Fee Glöckchen – aber nicht die von Walt Disney, sondern klassischere Bilder, wahrscheinlich das Original – darum, dass ich gut schlief und keine schlechten Träume hatte. Ein riesiger Kamin, der größte, den ich je gesehen hatte, bestimmte die andere Hälfte des Raums, das Spielzimmer. Er war wie eine Höhle und hatte einen Vorbau in Gestalt eines Drachenmauls. Die Backenzähne darin waren gepolsterte Stühlchen, damit meine Freunde und ich – so sagte es mir Maribel – ums Feuer sitzen und Geschichten anhören könnten, wenn der Winter käme. Es fiel mir nicht schwer, mir vorzustellen, dass eines Tages, bald, Bundó hier zusammen mit mir wohnen würde. In dem Zimmer gab es ja reichlich Platz für ein weiteres Bett. Oder falls nötig, könnte er sich auch in dem Indianerzelt verstecken, das am anderen Ende des Saals aufragte.
Weil Maribel es mir vorschlug, begann ich Schränke zu öffnen und Regale zu durchstöbern. Sie waren voller Puppen, Puzzles, Märchenbücher, Spielzeug, Malhefte. Ich ging hin und her, mit einem Kloß im Hals und gar nicht in der Lage, alles zu erfassen. Ich kam mir vor wie am Dreikönigsmorgen, bloß dass ich alle Geschenke des ganzen Waisenhauses für mich alleine auspackte – und noch mehr. Ab und zu kam mir in den Sinn, was die Nonne gesagt hatte, und dann hob ich den Blick und sagte Danke, vielen Dank. Maribel und Fernando schauten mir gerührt von der Türschwelle aus zu und brachten es nicht übers Herz, mich zu unterbrechen. Sie tupfte sich mit einem Taschentuch die Freudentränen ab. Als mir eine Weile später erneut einfiel, mich bei ihnen zu bedanken, merkte ich, sie hatten mich alleine gelassen. Das gefiel mir.
Zum Abendessen holte mich die Mutter zusammen mit einem Dienstmädchen ab. Sie hieß Otilia und sorgte zusammen mit Tomasa, dem anderen Dienstmädchen, das ich gesehen hatte, dafür, dass es mir an nichts fehlte. (Fragt mich nicht, warum, aber damals hatten alle Dienstmädchen solche Namen.) Ich musste nur brav sein und ihnen alles glauben. Ich aß, was immer sie mir vorsetzten, wie ein gutes Kind, dann ließen sie mich noch ein bisschen spielen. An diesem ersten Abend zog mir die Mutter den Schlafanzug an und brachte mich ins Bett. Kurz bevor das Licht ausgemacht wurde, kam auch Fernando – ich schaffe es nicht, ihn Vater zu nennen –, um mir Gute Nacht zu sagen. Zu zweit betteten sie mich in das Piratenschiff, gaben mir einen Kuss, und dann sagte die Mutter: »Papa und Mama sind sehr glücklich, dass dies dein neues Zuhause ist. Du freust dich, oder?«
»Oder?«, echote
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