Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
streckte ihnen meine Hand entgegen. Der Herr drückte sie mit seiner Linken, was mich sehr verblüffte. Dann merkte ich, dass ihm die Rechte gelähmt hinunterhing. Die Dame ging in die Knie, genauso wie die Nonne eine Minute zuvor, und tat etwas, was liebevoll gemeint war, was ich aber in dem Moment eklig fand, eben weil sie keine Nonne war: Sie leckte sich einen Finger und wischte mir damit einen Flecken von der Wange.
Es ist ja weit über fünfzig Jahre her, aber ich kann mich an den ersten Eindruck, den ich von ihnen hatte, ganz genau erinnern. Für meinen Kinderblick wirkten sie wohl älter, aber in Wahrheit waren sie ein Paar von siebenundzwanzig (sie) und dreißig Jahren (er). Die Frau hieß María Isabel, wurde Maribel genannt, und kam mir wunderschön vor. Sie war groß und stattlich, mit rotem Haar, grünen Augen, einer Prinzessinnen-Stupsnase – ich sage Prinzessinnen , weil ich ein paar Jahre später, als die Filme über Kaiserin Sissi ins Kino kamen, an sie denken musste – und, wie man es damals nannte, einem Kussmäulchen. Aber bei aller Anmut strahlte sie eine große Schwäche aus. Ich merkte sehr bald, dass Maribel ein erloschener, willenloser Mensch war. Selbst einem Winzling wie mir sprang ihr Unglück ins Auge, und in den folgenden Wochen versuchte ich immer wieder, sie mit irgendwelchen Faxen zum Lachen zu bringen. Er dagegen präsentierte sich als echter Typ, so aufgesetzt sympathisch, dass es schon ans Lächerliche grenzte. Er hieß Fernando – ja, wie die katholischen Könige, Isabel und Fernando – und trug einen sehr eleganten Anzug, mit Krawatte und mit Manschettenknöpfen am Hemd. Dass die Adoption ihn nervös machte, merkte man daran, dass er dauernd Füllwörter und komische Laute in seine Rede einbaute. Hala, ui , venga, bueno, uff , ves, aha .
»Hala, schön, schön«, flötete er, als Maribel ein Geschenk aus ihrer Krokodilledertasche zog und es mir gab. Ich packte es aus, es war ein Spielzeugauto, ein olivgrüner Bugatti.
»Was sagt man, Gabriel?«
»Aha …«
»Danke.«
»Ja, ja …«
»Vielen Dank«, korrigierte die Oberin noch. »Sie werden schon sehen. Gabriel ist ein sehr wohlerzogener und liebenswerter Junge. Nicht wahr, Gabriel? Jetzt ist er ein bisschen schüchtern, aber es ist ja auch ganz neu für ihn.«
»Verständlich.«
»Claro …«
Fernando Soldevila und Maribel Rogent hatten sich auf Katalanisch kennengelernt, doch ihre Familien hatten den Krieg gewonnen, und danach hatten sie alle ins Spanische gewechselt.
»Gut, Gabriel. Wie findest du Maribel und Fernando?«, fragte mich die Oberin. »Du magst sie gerne, nicht wahr? Denn von heute an werden sie deine Eltern sein … Was für ein Glück du hast! Du wirst sehen, wie gut es dir bei ihnen geht. Außerdem kommst du bald auf eine richtige Schule, nicht so wie hier. Eine Schule, wo du dir eine wundervolle Zukunft erarbeiten kannst.«
Die Nonne von vorher kam mich abholen. Während Fernando mit der Leiterin noch ein bisschen Papierkram erledigte, gingen Schwester Rosario und meine neue Mutter mit mir in den Schlafsaal, und zusammen packten wir meine Kleider und ein paar Bücher in eine Tasche. Maribel sagte immer wieder, wir bräuchten die Kleider nicht, zu Hause hätten sie neue für mich. Mir stand wohl die Angst ins Gesicht geschrieben, denn die Nonne versuchte die ganze Zeit, mich davon zu überzeugen, dass ich riesiges Glück hätte, und keine Sorge, ich könnte meine Freunde hier jederzeit besuchen kommen. Dann ging sie mit mir auf den Hof, wo die anderen spielten, und rief sie zusammen. Als sie alle um uns herumstanden, erklärte sie ihnen, eine Familie habe mich aufgenommen und sie sollten sich von mir verabschieden. Die Größeren riefen »Adéu!« und gingen wieder spielen, als sei nichts passiert. Bundó stand reglos und schweigend da. Ich fühlte mich schlecht, weil ich ihn nicht hängen lassen wollte. Ihr wisst ja, wir waren wie Brüder. Da trat er zu mir und sagte mir etwas ins Ohr, so leise, dass niemand außer mir es hören konnte: »Viel Glück, Gabriel. Sobald du kannst, hol mich hier raus.«
Wir fuhren mit dem Taxi nach Hause. Es war das erste Mal, dass ich in so einem Auto saß, aber es bedeutete mir nichts, ich schluchzte auf dem ganzen Weg in die Oberstadt. Ich saß in der Mitte zwischen meinen neuen Eltern, und Fernando versuchte mich mit seinem Repertoire an Füllwörtern zu trösten. Maribel hielt meine Hand so fest, dass es fast wehtat, starrte aus dem Fenster und wollte schnell
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