Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
störte, und zog sich unter einem Vorwand in ihre Wohnung zurück. Dann brach unser Vater das Eis.
»Schaut, Jungs, ich werde euch nicht um Verzeihung bitten. Es ist viel Zeit vergangen. Ich habe oft bereut, was ich getan habe, oder eher, was ich nicht zu tun imstande gewesen bin.«
Er hielt inne, um zu sehen, wie wir reagierten. Er sprach mit gesenktem Kopf, und seine Worte klangen schlaff und müde, als wären sie ihm viel zu lange in der Kehle gereift.
»Ich freue mich, euch wiederzusehen, klar, aber ich schäme mich auch ein bisschen dafür, dass es auf diese Art sein musste. Es lässt sich nicht mehr ändern. Hoffentlich … Ihr könnt mir vorwerfen, was ihr wollt, und ihr habt bestimmt in allem recht, aber ich werde euch nicht um Verzeihung bitten. Es ist zu viel Zeit vergangen.«
»Du sprichst, als ginge es um eine bereits verjährte Straftat«, sagten wir.
»Ist es denn keine Straftat? Deine Kinder im Stich zu lassen …«
»Kommt darauf an, wie du es betrachtest. Vielleicht ist es weniger eine Straftat als eine Strafe, die du dir selbst auferlegt hast.«
»Ja, aber …«
Es ist unmöglich, das Gespräch wiederzugeben, das sich nun entsponn, all das Hin und Her zwischen uns fünfen. Wir fanden auf einmal keinen Halt mehr an den Konventionen, kamen uns tollpatschig vor, unfähig, zwischen Nähe und Fremdheit den richtigen Ton zu finden. Sollten wir ihm wie einem Unbekannten begegnen, oder überwanden die Blutsbande jedes Hindernis? Wir tasteten herum. Aufwühlende Eröffnungen wechselten sich mit Fahrstuhldialogen ab. Wir fanden kein Gleichgewicht, mal verfielen wir in ein Polizeiverhör, dann wieder gingen wir mit diplomatischer Kälte auf Abstand. Die unangenehmen Gesprächspausen verdeckten wir mit übertrieben kumpelhaften Bemerkungen unter uns Brüdern. Zum Glück wurde diese Achterbahnfahrt nach und nach, also je mehr wir uns erklärten, immer ruhiger. Hinzu kam allerdings das Gewirr der Sprachen, das wir in der Aufregung entfesselten und vergeblich in den Griff zu bekommen versuchten. Unser Vater antwortete uns in seinem eigenen Kauderwelsch, sodass wir nun mit eigenen Ohren den Singsang hörten, dem unsere Mütter nicht hatten widerstehen können. Er ging die Sache gelassener an als wir, machte nicht so ein Theater und kam immer wieder auf Erinnerungen an unsere Kindheit zurück. Wenn uns dann eine seiner Anekdoten zum Lachen brachte oder wehmütig machte, revanchierten wir uns sofort mit Vorhaltungen. Wogegen er sich wiederum mit Fragen nach Sigrun, Sarah, Mireille und Rita zur Wehr setzte: ob wir ihnen etwas gesagt hätten, ob sie damit klargekommen seien, ob sie ihn hassten, ob wir ein halbwegs aktuelles Foto von ihnen dabeihätten? – Und schon kapitulierten wir wieder. Zudem zeigte sich, dass wir vier Brüder uns doch nicht immer einig waren, und hin und wieder spielte dann einer die beleidigte Leberwurst, wofür ihn die anderen verspotteten. Oder umgekehrt: Ein einsames Auflachen prallte gegen die empörten Gesichter der anderen drei. Im Lauf der Nacht lernten wir, dass alle Bündnisse möglich waren, sogar dass einer der Christofs sich mit Gabriel zusammentun konnte, um die drei anderen auszubremsen.
»Ich muss euch gestehen«, sagte der Vater in einem schwachen Moment, »dieses Treffen hat mir mehr Angst als Vorfreude bereitet. Mein ganzes Leben lang habe ich mir vorgestellt, dass ihr mich bis auf die Knochen verflucht, wo auch immer ihr seid, und dass ihr nichts mehr von mir wissen wollt.«
»Da liegst du gar nicht so falsch. Jeder Einzelne von uns hätte dir, als wir uns noch nicht kannten, diese Jahre des Schweigens mit Verachtung heimgezahlt. Und da war noch nicht einmal die Rache für das Leid unserer Mütter inbegriffen. Aber zum Glück haben wir uns ja zusammengerottet, um dich zu suchen. Die Neugier hat uns hingerissen, und mit jeder neuen Entdeckung wurden wir mehr zum Opfer dessen, was wir Südpazifik-Syndrom nennen.«
»Was ist das denn? Ich habe nur vom Stockholm-Syndrom gehört.«
»Es ist das genaue Gegenteil. Wir haben es erfunden. Südpazifik-Syndrom, weil von Stockholm aus der Südpazifik auf der anderen Seite der Erdkugel liegt. Das Stockholm-Syndrom bedeutet ja, dass eine Geisel Zuneigung zu ihrem Entführer fasst. Du hast in unserm Fall das genaue Gegenteil einer Entführung getan: Du hast uns im Stich gelassen. Aber während wir dich suchten, haben wir Zuneigung zu dir entwickelt, und nun wollen wir alles über dich wissen.«
»Alles! Da verlangt ihr zu wenig
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