Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
einmal zehn Jahre später, schätze ich. Da fuhren wir einen Transport in Barcelona und landeten genau bei dem Haus im Passeig de la Bonanova. Eine Familie aus Matadepera zog dort ein, und La Ibérica brachte ihnen die Möbel. Sobald ich die herrschaftliche Marmortreppe vor dem Eingang erkannte, mit dem roten Teppich darauf, wusste ich wieder genau, wie sich diese privilegierten zwei Wochen meiner Kindheit angefühlt hatten. Und ich muss sagen, es war keine unangenehme Erinnerung. Nennt mich verblendet, aber ich kam zu dem Schluss, wenn ich bei dieser Familie geblieben wäre, hätte ich wohl im Leben weniger gesehen als so. Wenn der Fuchs nicht an die Feigen kommt, sagt er, sie schmecken nicht, hm?
Jedenfalls, als wir die Möbel hochtrugen, sah ich all die Zimmer wieder. Nun schien mir das Haus nicht mehr so riesig wie damals.
»Verzeihung«, fragte ich den Burschen, der uns die Tür geöffnet hatte, »wissen Sie etwas von der Familie, die vorher hier wohnte?«
»Nicht viel«, sagte er. »Es waren Verwandte meiner Mutter, sie hat das hier geerbt. Aber seit über fünfzehn Jahren lebte niemand mehr in der Wohnung, und sie war die ganze Zeit verriegelt. Anscheinend war irgendein Unglück geschehen. Eine von diesen Familiengeschichten, die keiner erzählen will … Zum Glück hat hier alles die Jahre gut überstanden. Exzellentes Material.«
In diesem Moment stieß Bundó, der mit mir und Petroli den Umzug machte, einen bewundernden Pfiff aus, während er aus einem der Räume trat.
»Hier haben ja mindestens ein paar Fürsten gewohnt. Hast du das Kinderzimmer gesehen?«
Ich wollte ihm nicht sagen, dass dies das Haus war, in das man mich zwanzig Jahre zuvor adoptiert hatte. Sonst hätte er mir alle fünf Minuten scherzhaft vorgeworfen, dass ich es nicht geschafft hatte, diese Familie für mich einzunehmen und sie zu überzeugen, auch ihn zu adoptieren. Ich nutzte eine Pause, die wir machten, steckte mir eine Zigarette an und trat in mein Reich. Alles war noch ganz so, wie ich es gekannt hatte, bloß ohne die Möbel. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Die Bilder an den Tapeten, Hänsel und Gretel, Peter Pan und Glöckchen, der Kamin in Drachenform … Bei dem Anblick kam mir eine Erinnerung. Am Tag nach dem schicksalhaften Abend damals war ich, bevor Fernando mich holte und in die Casa de la Caritat zurückbrachte, eine Weile alleine in dem Zimmer gewesen. Da nahm ich mir das Bild, das ich gemalt und zerknüllt hatte, entknitterte es und suchte ein Versteck dafür. So wie ich glaubte, dass es der erste Cristóbal getan hatte, wollte ich eine Spur hinterlassen für das Adoptivkind, das mich ersetzen würde. Ich war schon im Begriff, das Blatt in die Gitarre zu stopfen, wie mein Vorgänger seins in die Trompete, aber dann dachte ich mir, das wäre der erste Ort, an dem Fernando und Maribel suchen würden. Stattdessen schlüpfte ich zwischen den Drachenzähnen hindurch und fand drinnen im Kamin einen versteckten Winkel, wie ein kleines Loch im Mund. Nun, bei dem Umzug, kroch ich da also wieder hinein – bestimmt war der Kamin kein einziges Mal angezündet worden – und schaute nach. Es war noch da, verstaubt und verblichen. Ich signierte es mit einem Kugelschreiber – Cristóbal – und legte es wieder zurück, damit die Kinder, die dieses Zimmer nun bewohnten, es eines Tages finden würden.
Dann schleppte ich weiter Möbel wie ein Bekloppter, treppauf, treppab den ganzen Tag, denn das war es, was ich konnte.
Auf irgendeinem Friedhof in Barcelona, sicherlich auf einem der marmornen Familiengräber, die noch erhalten sind, muss es eine Steintafel geben mit der Aufschrift
CRISTÓBAL SOLDEVILA ROGENT
(1940–1948)
Zwei Wochen lang willigte ich ein, das Leben dieses Kindes zu verlängern. Ich versuchte es, aber ich schaffte es nicht. Seit damals aber ist Cristóbal – oder eben Cristòfol, Christof, Christophe oder Christopher, jede Variante, die ihr wollt – für mich ein anderes Wort für Glück. Oder besser gesagt eine Möglichkeit, im Leben Glück zu haben. Das ist der Grund, aus dem ihr heißt, wie ihr heißt, Christofs.
Der Vater verstummte. Da wir uns nicht rührten, klatschte er einmal kräftig in die Hände, woraufhin wir vier alle zugleich die Augen weit aufrissen.
»Da habe ich euch ja was zugemutet«, sagte er. »Ich staune, dass ihr nicht eingeschlafen seid.«
Nein, ganz im Gegenteil. Seine Eröffnungen hatten uns aufgewühlt, wir waren erschüttert, hypnotisiert. So viel hatten wir nicht von
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