Die Jaeger der Nacht
Aggressivität antrainieren. Und sie haben nichts dagegen, von einem Weibchen angeführt zu werden. Diese jedenfalls nicht.«
Er verschwindet noch tiefer in einer Ecke und wird von Dunkelheit verschluckt. Die nächsten paar Minuten passiert gar nichts. Niemand rührt sich, keiner sagt etwas. Wir sitzen mit gleichgültiger Miene und glasigem Blick da und warten, dass irgendjemand, irgendetwas die Stille unterbricht.
Da spüre ich es. Ein Prickeln im Nacken: Jemand starrt mich von hinten an. Das Letzte, was man tun sollte – höre ich die belehrende Stimme meines Vaters –, ist, sich umzudrehen. Eine so drastische Bewegung, während alle anderen still sitzen, wird nur Aufmerksamkeit erregen. Unerwünschte Aufmerksamkeit. Als ob es überhaupt eine andere Art gäbe …
Doch das Prickeln wird stärker, bis ich es nicht mehr aushalte. Ich lasse meinen Stift fallen, bücke mich, um ihn aufzuheben, und werfe einen raschen Blick hinter mich.
Es ist Ashley June, ihre Augen in dem Licht der Quecksilberlampen todesgrün. Sie sitzt direkt hinter mir. Um ein Haar wäre ich auf meinem Stuhl hochgeschreckt – »Hochschrecken« ist der Reflex, wenn wir vor Angst fast aufspringen wollen –, doch ich kann es gerade noch unterdrücken. Ich schließe halb die Augen – ein Trick, den mein Vater mir beigebracht hat, um sicherzugehen, dass ich sie nie zu weit aufreiße – und drehe mich um.
Hat sie gesehen, wie ich hochgeschreckt bin? Hat sie gesehen, wie ich hochgeschreckt bin?
Irgendjemand steht plötzlich am Rednerpult. Flatterkleid von gestern. »Wie geht es uns allen heute Abend? Amüsieren wir uns?« Sie zückt einen Notizblock, wirft einen Blick darauf und schaut lächelnd auf. »Heute haben wir volles Programm. Zunächst eine Tour durch die Einrichtung, die fast die ganze Nacht in Anspruch nehmen wird. Und wenn es die Zeit und die Dunkelheit erlauben, gibt es zum Abschluss noch einen Ausflug zu dem Hepra-Dorf, das nur knapp zwei Meilen vom Hauptgebäude entfernt liegt. Wenn wir trödeln und es schon zu kurz vor Sonnenaufgang ist, müssen wir das auf morgen verschieben.« Sie sieht jedem von uns prüfend ins Gesicht. »Aber irgendwie glaube ich nicht, dass es so weit kommen wird. Sollen wir also anfangen?«
In den nächsten Stunden folgt eine sterbenslangweilige Tour durch die Einrichtung, im Grunde nicht mehr als ein endloser Marsch durch dunkle Flure. Und Leere. Das finde ich am auffälligsten: wie still und leer alles ist – die Räume, die Flure, selbst die feuchte Luft, die wir einatmen, alles nur Überreste und Echos einer geschäftigeren, volleren, lebhafteren Zeit. Unsere Begleiter folgen uns schweigend. Die erste Etage, wo Personal und Jäger untergebracht sind, überschlagen wir. Im zweiten Stock ist die Forschungsabteilung. Ein Labor reiht sich ans andere. Auf der ganzen Etage hängt der moschusartige Geruch von Formaldehyd in der Luft. Obwohl unser Führer in den höchsten Tönen von jedem Laboratorium schwärmt – dieses wird zur Untersuchung von Hepra-Haaren benutzt, jenes zum Studium von Hepra-Lachen, ein drittes zur Erforschung von Hepra-Gesang –, wurden die Labors offensichtlich seit geraumer Zeit nicht mehr genutzt.
»Das Ganze ist nur Show, das ist doch wohl klar, oder?«
»Verzeihung?« Ich wende mich dem älteren Mann neben mir zu. Er ist einer der Jäger. Wir stehen in einem Labor, in dem früher Hepra-Haare und -Fingernägel untersucht wurden. Der Mann beugt sich zu mir, seine hagere Gestalt neigt sich wie ein abgebrochener Bleistift und sein Kopf schwebt über einer Glasplatte mit eingelassenen Proben von Hepra-Fingernägeln. Sein Schädel ist so kahl und glatt wie das Glas, zur Stirn hin jedoch mit Altersflecken gesprenkelt. Über seine glänzende Glatze sind einige dünne Haarsträhnen gekämmt wie Wolkenfetzen vor dem Mond. Wir stehen allein an der Rückwand des Labors, alle anderen drängeln sich weiter vorne, wo die (offenbar) aufregenderen Proben von Hepra-Haaren ausgestellt sind.
»Eine Show«, flüstert er.
»Die Fingernägel?«
Er schüttelt den Kopf. »Die ganze Tour. Die ganze Trainingsphase.«
Ich mustere ihn von der Seite. Es ist das erste Mal, dass ich ihn aus der Nähe sehe, und er ist älter, als ich dachte, sein Haar dünner, sein Rücken gebeugter, seine Falten tiefer.
»Wofür brauchen wir Training?« Seine Stimme ist rau und ein wenig heiser. »Sie sollen uns die Hepra einfach sofort geben. Wir werden sie in einer Minute verschlingen. Dafür brauchen wir
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