Die Jaeger der Nacht
ihm umdrehe. Für einen Moment verschleiert sich sein klarer Blick wieder. Eine Speichelspur, die er noch nicht abgewischt hat, klebt an seinem Kinn.
»Hepra«, flüstert er.
Weil ich nicht will, dass er hinter meinem Rücken herumlungert und mich wegen einer weiteren »Vorführung« belästigt, warte ich, bis er gegangen ist. Ich bin seltsam ängstlich, aber auch aufgeregt, als ich das Fernglas hebe. Mit Ausnahme meiner Familie habe ich noch nie einen anderen Hepra gesehen.
Zuerst weiß ich nicht, wonach ich suchen soll. Durch eine Lücke in den Wolken fällt das Mondlicht auf einen Streifen Land. Mit dem Fernglas vor Augen erforsche ich langsam die Umgebung: vereinzelte Kakteen, ein Felsen, nichts.
In der Ferne kann man eine unauffällige Ansammlung von Lehmhütten ausmachen. Das Hepra-Dorf. Ich schätze, es ist etwa eine Meile entfernt. In seiner Mitte liegt eine Art Teich – garantiert künstlich angelegt, denn in dieser Landschaft würde eine natürliche Wasserstelle früher oder später austrocknen. Nichts bewegt sich. Die Lehmhütten sind so unscheinbar wie die Wüste.
Etwas fällt mir allerdings auf: Der Schimmer, den das Mondlicht über die Lehmhütten wirft, ist seltsam gewölbt.
Und dann wird es mir klar: Über den Hütten erhebt sich eine durchsichtige Kuppel, die an ihrem höchsten Punkt bestimmt fünfzig Meter hoch ist und das komplette Dorf einfasst.
Natürlich, jetzt ergibt alles einen Sinn!
Ohne die Kuppel wären die Hepra Freiwild für alle. Was sollte die Leute daran hindern, die Hütten zu überfallen, wenn die Hepra nachts ungeschützt schliefen? Wer könnte sich zurückhalten, sie zu verschlingen, wenn sie nicht komplett abgeschottet wären? Ohne die schützende Kuppel hätten sie keine Nacht überlebt.
Ich zoome auf die Lehmhütten und halte Ausschau nach Zeichen von Leben, doch nichts rührt sich. Die Hepra schlafen. Keine Chance, heute Nacht eins von ihnen zu sehen.
Aber dann … Aus einer der Hütten tritt ein Hepra!
Doch selbst mit dem Fernglas kann ich nicht viel erkennen. Eine dünne weibliche Gestalt geht zu dem Teich. Sie hält eine Art Eimer in der Hand. Am Rand des Teiches beugt das Hepra sich vor und füllt den Eimer mit Wasser. Ich drehe an dem Rädchen, bis das Bild scharf ist. Dann erkenne ich es: Es ist das Hepra-Weibchen aus dem Fernsehen, das bei der Lotterie die letzte Zahl gezogen hat.
Ich beobachte, wie es aufsteht und aus gewölbten Händen einen Schluck trinkt. Mit dem Rücken zu mir steht es lange Zeit still und starrt auf die Berge im Osten. Dann bückt es sich, wölbt die Hand und trinkt noch einen Schluck. Auch wenn es nur eine schlichte Geste ist, wirkt sie anmutig und selbstsicher. Plötzlich wendet es den Kopf in meine Richtung. Ich weiche zurück. Vielleicht hat es eine Reflexion der Linse gesehen. Aber es blickt an mir vorbei zum Institut. Ich zoome noch näher auf sein Gesicht. Diese Augen … Ich erinnere mich daran, wie sie mich am frühen Abend von dem Monitor auf meinem Pult angestarrt haben, ihr Ton so braun wie die Maserung eines Baumes.
Nach einer Weile dreht es sich wieder um und verschwindet in einer der Lehmhütten.
VIERTLETZTE NACHT VOR DER JAGD
Ich bin neugierig auf die Bibliothek, in der man mich untergebracht hat, und will den ganzen Tag wach bleiben, um sie zu erkunden. Aber die Aktivitäten der Nacht haben mich erschöpft. Kaum habe ich mich hingesetzt, um den Inhalt des Willkommenspakets durchzusehen, bin ich schon eingeschlafen und wache erst Stunden später wieder auf.
Jemand klopft an die Tür. Erschrocken und mit pochendem Herzen springe ich auf. »Einen Moment!«, rufe ich und höre eine gemurmelte Antwort.
Die Furcht rüttelt mich gründlich wach. Mein Gesicht!, schießt es mir durch den Kopf. Ich bin noch nicht fertig. Ich taste mein Kinn ab: Feine Stoppeln sprießen durch die Haut. Genug, um aufzufallen. Und was ist mit meinen Augen? Sind sie vor Müdigkeit blutunterlaufen? Und müssen meine falschen Zähne geweißt werden, braucht mein Körper eine Wäsche?
Vergiss nie, dich zu rasieren. Schlaf genug, damit deine Augen nicht blutunterlaufen sind. Vergiss nie, dir jeden Morgen die Zähne zu weißen, bevor du aus dem Haus gehst. Und wasch dich jeden Tag. Körpergeruch ist das gefährlichste …
Die Anweisungen meines Vaters. Ich habe sie jeden einzelnen Tag meines Lebens befolgt. Aber Rasierer, Augentropfen, Reißzahnweißer und Achselsalbe liegen meilenweit entfernt bei mir zu Hause. Mit den richtigen Zutaten
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