Die Jaeger der Nacht
ihres Tisches wahrzunehmen. Aber dann trifft doch ein Blick den meinen und lässt ihn nicht wieder los. Es ist Ashley June. Sie sieht mich mit diesem wehmütigen, sehnsüchtigen Ausdruck an, wie sie es in den vergangenen Jahren schon so oft getan hat.
Ich wende den Blick ab und drehe mich hastig wieder um. Idiot und Doofus kratzen sich jetzt wie verrückt die Handgelenke. Ich spüre, wie sich die Hitze einer gefährlichen Röte in meinem Gesicht ausbreitet, doch sie sind zum Glück zu beschäftigt mit dem Kratzen, um es zu bemerken. Ich senke den Kopf und atme ein paarmal tief durch, bis die Hitze verflogen ist.
»Sag, war die nicht schon mal hinter dir her?«, fragt Idiot. »Ja, doch, ich glaub schon. Vor ein paar Jahren.«
»Sie schmachtet dich immer noch voll an. Nach all den Jahren ist sie immer noch scharf auf dich«, witzelt Doofus, und diesmal kratzen sie sich gegenseitig unkontrolliert die Handgelenke.
Das Schwimmtraining nach dem Essen – ja, mein Trainer ist ein Irrer – fällt beinahe aus. Kein Mitglied der Mannschaft kann sich konzentrieren. Durch die Umkleidekabine schwirren die neuesten Gerüchte über die Deklaration. Ich warte, bis der Raum leer ist, bevor ich mich umziehe. Ich schlüpfe gerade aus meinen Kleidern, als jemand hereinkommt. »Yo«, sagt Poser, der Mannschaftskapitän, reißt sich die Klamotten vom Leib und streift seine superenge Badehose über. Er geht in die Hocke, macht ein paar Liegestütze und pumpt seine Oberarm- und Brustmuskeln auf. In seinem Spind liegt eine Hantel für seine Bizeps-Curls bereit. Das macht seine Exhibität, der Poser, vor jedem Training, um sich so richtig auf Touren zu bringen. Er hat da draußen einen Fanclub, überwiegend jüngere Mädchen aus dem Damenteam. Ich habe beobachtet, wie er ihnen erlaubt, seine Brustmuskeln zu berühren. Früher haben die Mädchen auch mich angegafft. Die Mutigeren sind beim Training wie zufällig neben mir aufgetaucht und haben versucht, mit mir zu reden, bis sie gemerkt haben, dass ich lieber für mich bleibe. Zum Glück hat Poser das meiste dieser Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Er macht zehn weitere Liegestütze rasch hintereinander. »Es muss um eine Hepra-Jagd gehen«, sagt er dabei. »Und diesmal sollten sie die Idee vergessen, es per Lotterie zu entscheiden. Sie sollten einfach die Stärksten unter uns auswählen.« Er beendet seine Liegestütze. »Also mich.«
»Auf jeden Fall«, antworte ich. »Bei der Jagd ging Muskelkraft doch schon immer vor Hirn. Überleben des Stärkeren …«
»Und der Gewinner kriegt alles«, beendet er den Satz für mich und macht zehn weitere Liegestütze, die letzten drei auf einer Hand. »Leben in seiner reinsten Form. Das muss man einfach lieben. Weil die rohe Kraft triumphiert. So war es schon immer und so wird es auf alle Zeit bleiben.« Er streicht mit einem zufriedenen Blick über seine Muskeln und verschwindet durch die Tür. Erst jetzt ziehe ich mich ganz aus und streife meine Badehose über.
Der Trainer brüllt uns schon an, als wir ins Becken springen, und er beschimpft uns ununterbrochen für unsere fehlende Konzentration, während wir unsere Bahnen schwimmen. Das Wasser, das selbst an normalen Tagen zu kühl für mich ist, ist heute eiskalt. Sogar einige meiner Klassenkameraden beschweren sich und die beklagen sich sonst fast nie über die Temperatur. Kaltes Wasser hat auf niemanden solche Auswirkungen wie auf mich. Ich zittere und bekomme etwas, das mein Vater immer »Gänsehaut« nannte. Es ist einer der vielen Aspekte, in denen ich anders bin als alle anderen. Obwohl ich körperlich fast identisch mit ihnen erscheine, lauern unter der brüchigen, täuschenden Fassade der Ähnlichkeit verheerende und grundlegende Unterschiede.
Heute sind auf jeden Fall alle langsamer, bestimmt, weil sie abgelenkt sind. Ich brauche mehr Tempo, mehr Anstrengung. Ich muss meine gesamte Kraft aufbieten, um nicht zu zittern. Selbst wenn bei normaler Wassertemperatur alle wie gewohnt vor sich hin planschen, dauert es zwanzig Minuten, bis mir warm ist. Heute spüre ich, wie mir nicht wärmer, sondern immer kälter wird. Ich muss schneller schwimmen.
Als wir uns nach dem Einschwimmen am flachen Ende ausruhen, überkommt mich ein fast unwiderstehlicher Drang, mich abzustoßen und den verbotenen Stil zu probieren.
Nur mein Vater hat mich so schwimmen gesehen. Es war bei einem unserer Tagesausflüge zu einem Schwimmbad in der Nähe. Aus irgendeinem Grund habe ich meinen Kopf unter Wasser
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