Die Jaeger der Nacht
winzigen Pusteln auf ihrem Arm. »Ja, aber ich nenne es ›Gänsehaut‹, nicht ›Hühnerpusteln‹.«
»›Gänsehaut‹«, wiederholt sie. »Das gefällt mir besser. Klingt irgendwie freundlicher.«
Ehe ich mich zurückhalten kann, streiche ich mit den Fingerspitzen über ihren Arm. Ihre Haut ist samtweich. Sie zittert und zieht den Arm weg.
»Tut mir leid«, sagen wir beide gleichzeitig.
»Nein, ich bin, ich sollte …«, setze ich stotternd zu einer Entschuldigung an.
»Nein, ich-ich … das war ein unwillkürliches Zucken. Ich meine, ich hab nicht angewidert den Arm weggezogen oder so … es ist schwer zu erklären.« Und dann packt sie plötzlich meine Hand und legt sie auf ihren Unterarm.
Etwas schießt durch meinen Arm, wie ein Blitz aus Hitze und Elektrizität. Ich ziehe die Hand zurück, doch in ihren Augen lese ich ihre Einladung und ihr Verlangen.
Die Gänsehaut auf ihren Armen ist jetzt noch ausgeprägter. Als ich diesmal meine Handfläche auf die weiche Innenseite ihres Arms lege, zuckt sie nicht zurück und ich ziehe die Hand nicht weg. Wir sehen uns an und die Tränen in ihren Augen sind wie ein Spiegelbild meiner eigenen.
Kurz darauf schläft sie auf dem Sofa ein. Ihr Körper faltet sich zusammen wie ein missglücktes Origami-Werk, ihr Kopf liegt verdreht an der Lehne. In leisen Zügen atmet sie durch den leicht geöffneten Mund. So verdreht, wie sie liegt, wird sie mit einem verspannten Nacken aufwachen. Ich versuche, ihren Kopf gerade auf der Armlehne zu positionieren und sie gibt dem sanften Druck meiner Hände im Schlaf nach. So sonderbar, einen anderen zu berühren.
Ich setze mich auf die andere Seite des Sofas, mein Körper ist schwer, aber entspannt. Über uns hängen die Schlafhalter an der Decke, zwei matte Ovale, die auf uns herabschauen wie allwissende Augen, voller höhnischer Vorwürfe. Sie haben mich mein Leben lang verfolgt, diese Schlafhalter. Eine Zeit lang hatte ich eine Lieblingsfantasie. In dieser Fantasie lebe ich das normale Leben einer normalen Person. Jeden Morgen gehe ich zu den Schlafhaltern, meine neugeborenen Zwillinge – in meinem Tagtraum beides Mädchen – schlafen im Nebenzimmer, ihre Engelsgesichter erscheinen noch pausbäckiger, weil sie an den Füßen von der Decke hängen. Und meine Frau hängt schlafend neben mir, ihr blasses Gesicht leuchtet im Quecksilberlicht, ihr langes Haar fällt bis zum Boden, selbst in den Riemen der Schlafhalter wirken ihre Füße noch elegant. Und in meiner Fantasie strömt das Blut nicht rauschend und pochend in mein Gesicht und meine Ohren; die Riemen der Schlafhalter zerren und scheuern nicht an meinen Füßen; keine Träne fällt auf den Boden unter mir. Es herrscht nur Ruhe und Kühle und Stille. Alles ist normal. Und ich auch.
Ich blicke zu Ashley June, die anmutig auf dem Sofa liegt, ihre Brust, die sich hebt und senkt, hebt und senkt. Hinter ihren geschlossenen Lidern bewegen sich ihre Augen. An einem Winkel ihres offenen Mundes klebt Speichel. Schließlich lasse auch ich die Augen zufallen. Müdigkeit zieht mich in einen tiefen, seligen Brunnen. Es ist ein völlig neues Gefühl. Neben jemandem einzuschlafen. Etwas Intimeres, Mutigeres und Vertrauensseligeres habe ich noch nie gewagt.
LETZTE NACHT VOR DER JAGD
Zunächst ist niemand besonders beunruhigt, als Fettwanst nicht zum Frühstück erscheint. Er ist notorisch schwer zu wecken, sein Begleiter hat sich vor seinem Ableben häufig darüber beklagt. Erst als das Geschirr auf den Tischen abgeräumt ist und wir uns alle zum Vorlesungssaal begeben, wird ein Institutsmitarbeiter losgeschickt, in seinem Zimmer nachzusehen.
Es herrscht Überraschung, aber keine Trauer, als die Nachricht von seinem Verschwinden bekannt wird. Wir sitzen mittlerweile im Vorlesungssaal und lauschen einem leitenden Institutsmitarbeiter, der über die zu erwartenden Wetterbedingungen spricht (windig, mit heftigem Regen), als ein weiterer Institutslakai den Raum betritt. Er flüstert seinem Vorgesetzten etwas zu, worauf dieser hinausgeht und seinen Untergebenen am Rednerpult zurücklässt.
»Einer der Jäger ist verschwunden«, erklärt er, zögert und weiß nicht, was er als Nächstes sagen soll. »Ein Suchtrupp durchkämmt das Gebäude, ein weiterer die nähere Umgebung draußen. Möglicherweise handelt es sich um einen Fall von Verschwinden bei Sonnenlicht. Es besteht jedoch kein Grund zur Besorgnis.«
Nicht, dass irgendjemand besorgt wäre. Keiner vergießt eine Träne. Für uns
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