Die Jaeger der Nacht
man die Zentralverriegelung ausschaltet.«
Ihre Augen funkeln. »Doch, wissen wir. Und es ist ganz leicht. Jedenfalls für uns. Als wir neulich nachts das Kontrollzentrum besucht haben, habe ich ein bisschen rumgeschnüffelt. Ein Typ hat angefangen, mir zu erklären, wie die Verriegelung funktioniert. Stell dir vor, es ist ein einfacher Knopf! Wenn man ihn drückt, wird die Zentralverriegelung eine Stunde vor Anbruch der Dämmerung eingeschaltet; wenn man noch mal auf denselben Knopf drückt, wird sie wieder deaktiviert.«
»Niemals. So einfach kann es nicht sein. Es müsste eine Sicherung geben …«
»Und es gibt auch eine. Ein unfehlbares System: die Sonne. Die Fensterläden im Kontrollzentrum schließen sich tagsüber nicht, schon vergessen? Um die Leute fernzuhalten. Das bedeutet, zum einzigen Zeitpunkt, an dem man die Zentralverriegelung abschalten kann – vor Anbruch der Dämmerung –, ist der Raum sonnendurchflutet. Sie können ihn nicht betreten. Wirksamer, als wenn der Knopf von Laserstrahlen und einem Säuregraben umgeben wäre. Es ist genial.«
»Genau wie unser Plan.«
»Mein Plan«, korrigiert sie mich und die Andeutung eines Lächelns umspielt ihre Lippen.
»Es könnte tatsächlich funktionieren«, sage ich mit untypischer Begeisterung in der Stimme. »Das könnte wirklich funktionieren.« Wir zermartern uns das Hirn auf der Suche nach einem Fehler in dem Plan. Schweigen. Wir finden keinen.
»Ich muss mich waschen. Rasieren.«
Die Feuchtigkeit in meinem Gesicht fühlt sich gut an. Ich schrubbe mir Gesicht und Achselhöhlen, dann ist das Wasser aufgebraucht. Ich nehme die Klinge und kratze oberflächlich über meine Haut. Nur noch ein paar Nächte, dann bin ich zu Hause. Das ist offenbar der Plan.
Als ich zurückkomme, ist sie verschwunden. Ich blicke auf die Uhr. Kurz nach sechs. Noch eine halbe Stunde Tageslicht.
Aber sie ist nicht gegangen. Sie ist in der Abteilung mit den Nachschlagewerken, wo der Sonnenstrahl hinfällt. Sie hat mir den Rücken zugewandt und hält ein Buch hoch. Der Sonnenstrahl trifft direkt auf ihre Brust.
»Wie ich sehe, hast du den Sonnenstrahl entdeckt.«
Sie fährt herum und der Anblick ihres Gesichtes im Abglanz des Lichtes lässt mich verstummen. Ein sanftes Lächeln umspielt ihre Lippen, ein wagemutiger Ausdruck von Gefühl. Ich spüre, wie Mauern zwischen uns einbrechen, Ziegel und Zementbrocken zu Boden fallen, spüre frische Luft und milden Sonnenschein auf blasser Haut.
»Hi«, sagt sie zögernd, aber freundlich, als würde sie schüchtern die Arme ausstrecken.
Wir sehen uns an, und ich versuche nicht zu starren, aber mein Blick schießt immer wieder zu ihr zurück. »Du hast den Strahl entdeckt.«
»War schwer zu übersehen. Aber was soll das Ganze?«
»Das ist längst nicht alles. Da steckt viel mehr dahinter, als man auf den ersten Blick erkennt. Zu einer bestimmten Tageszeit fällt der Strahl auf die Wand gegenüber …«, ich führe sie zu der Stelle, »… und diesen kleinen Spiegel, wodurch ein zweiter Strahl entsteht, der auf einen weiteren Spiegel dort drüben fällt. Der dritte Strahl richtet sich auf dieses Bücherregal, genau auf dieses Notizbuch …«
Es ist verschwunden.
»Oh, du meinst wohl das hier?«, fragt sie und hält es hoch.
»Woher wusstest …«
»Es war das einzige Buch, das nicht im Regal stand, sondern auf dem Tisch da lag. Dort lag es auch schon, als der Direktor uns hier getroffen hat. Also habe ich eins und eins zusammengezählt. Du hast wohl vergessen, es zurückzustellen.«
»Hast du reingeguckt? Dieser Forscher hat eine Menge Zeug aufgeschrieben. Ziemlich abgedreht.« Ich sehe sie an. »Er war genau wie wir, weißt du.«
»Inwiefern?«
»Du weißt schon.« Ich schlage den Blick nieder.
»Oh«, sagt sie leise. »Nie im Leben.«
Ich nicke. »Doch, wirklich seltsam. Aber er muss Monate damit zugebracht haben, dieses Notizbuch zu füllen, indem er handschriftlich alle möglichen Textstellen kopiert hat, von Lehrbüchern über naturwissenschaftliche Abhandlungen bis hin zu uralten religiösen Texten. Und dann gibt es eine wirklich merkwürdige leere Seite …«
»Du meinst die hier.« Sie schlägt das Buch bei der leeren Seite auf und fährt fort, ehe ich etwas erwidern kann. »Die Seite, auf der eine Landkarte sichtbar wird, wenn man sie ins Licht hält?«
Ich stutze. Eine Landkarte? »Genau«, sage ich leise. »Genau die Seite meinte ich.«
Sie starrt mich an und ein Lächeln bricht sich auf ihrem
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