Die Jaeger der Nacht
Gesicht Bahn. »Lügner«, sagt sie. »Du hattest keinen Schimmer von der Karte.«
»Okay, du hast Recht«, antworte ich und ihr Lächeln wird breiter. »Ich wusste nichts von der Karte. Aber lass sehen. Die Sonne geht bald unter, wir haben nicht viel Zeit.«
Und tatsächlich, sobald sie das Blatt in den Sonnenstrahl hält, treten die klaren Linien einer Landkarte hervor, die sich zu einem farbenprächtigen Gemälde verdichten.
»Du hättest die Karte vor fünf Minuten sehen sollen, als der Sonnenstrahl noch kräftiger war. Die Farben sind förmlich vom Papier geflossen, dass einem die Augen brannten.«
Die abgebildete Landschaft ist detailliert und umfangreich. In der unteren linken Ecke erkenne ich den grauen Klotz des Hepra-Instituts, rechts daneben die Kuppel, überproportional groß und funkelnd. Die übrige Karte umfasst das Land im Norden und Osten, das öde Braun von »das Weite« geht über ins satte Grün der Berge im Osten. Am merkwürdigsten ist ein blaugrün eingezeichneter großer Fluss, der von Süden nach Norden fließt. Mein Finger folgt seinem Lauf.
»Der Nede-Fluss«, sagt Ashley June.
»Ich dachte, das wäre bloß ein Mythos.«
»Nach dieser Karte nicht.«
Mein Finger stockt. »Hallo, was ist denn das?«
Wo der Nede-Fluss eine Biegung in Richtung der Berge im Osten beschreibt, ist ein Boot oder Floß eingezeichnet, das an einem kleinen Dock vor Anker liegt. Ebenso deutlich ist ein dicker Pfeil, der von dem Boot flussaufwärts weist.
»Ich weiß, ich hab mich auch gewundert. Als wollte er sagen, dass man mit dem Boot über den Fluss zu den Bergen im Osten fahren sollte.«
»Das ergibt keinen Sinn. Flüsse fließen die Berge hinunter und nicht hinauf.«
»Glaubst du, das war seine Fluchtroute?«, fragt sie aufgeregt. »Die des Forschers?« Sie erkennt meine Verwirrung. »Alle sagen, er wäre von der Sonne verbrannt worden. Aber wenn er, wie du sagst, wirklich ein Hepra war, muss es eine andere Erklärung für sein Verschwinden geben. Vielleicht ist er entkommen. Mit einem Boot. Diesem Boot.«
Schon möglich, denke ich, schüttele dann aber den Kopf.
»Warum sollte er eine Karte seiner Fluchtroute hinterlassen? Das ist doch total unlogisch.«
»Mag sein. Eins ist jedenfalls klar.«
»Was denn?«
»Diese Karte ist nur für die Augen von Hepra bestimmt. Man kann sie nur im Licht der Sonne lesen. Niemand sonst kann sie sehen, nicht einmal zufällig.«
Ich beuge mich vor und betrachte die Karte eingehender. Der Detailreichtum wird immer erstaunlicher, je näher man hinguckt. Fauna und Flora werden mit verblüffender Genauigkeit sichtbar. »Was hat das alles zu bedeuten?«, frage ich.
»Ich weiß es nicht.«
»Wir kriegen es raus«, sage ich.
Sie ist still, und als ich aufblicke, schimmern ihre Augen feucht. Sie lächelt. »Ich mag es, wenn du wir sagst.«
Mein Blick verharrt auf den kleinen Fältchen um ihre Mundwinkel. Ich möchte sie mit den Fingerspitzen nachzeichnen. Ich sehe ihr in die Augen und erwidere ihr Lächeln.
Sie betrachtet meine Züge wie eine Buchseite, wie ein Kleinkind, das lesen lernt, und formuliert im Kopf die Silben der Gefühle auf meinem Gesicht.
Ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Unsicherheit flutet den Augenblick. Ich starre nach unten und tue, als würde ich die Karte studieren. »Was glaubst du, wohin sie die Hepra schicken?«
»Könnte überall sein. Es spielt im Grunde auch keine Rolle, sie könnten ihr Kreuz auf der Karte praktisch wahllos setzen, solange es acht Stunden entfernt ist. Nicht nach Westen, würde ich vermuten. Man will bestimmt nicht, dass die Hepra dem Palast zu nahe kommen. An einem windigen Tag könnte ihr Geruch sonst vom Palastpersonal gewittert werden. Und es will bestimmt niemand riskieren, dass die Palastbediensteten die Jagd stören.«
Dann schweigt sie. Als ich aufblicke, reibt sie sich die Arme.
»Als der Direktor gestern Abend hier war«, fährt sie leise fort, »hat er was von Hepra-Farmen im Palast gesagt, erinnerst du dich?« Sie schüttelt den Kopf. »Er hat nur Spaß gemacht, oder? Die ganze Sache mit den Hepra-Farmen … mit Hunderten von Hepra … das war nur ein Gebilde seiner kranken Fantasie, richtig?«
»Ich weiß nicht. Kann sein. Ich bin nicht aus ihm schlau geworden.«
Sie reibt sich weiter die Arme. »Es ist so unheimlich, allein die Vorstellung. Ich hab an beiden Armen Hühnerpusteln.« Sie sieht mich an. »Kriegst du diese Hühnerpusteln auch?«
Ich trete neben sie und betrachte die
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