Die Jagd am Nil
bemerken.
II
Das Wasser reichte Lily mittlerweile bis zum Kinn. Sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, um Luft zu kriegen. Ihr linker Arm schmerzte höllisch, da sie die ganze Zeit über Gaille festhielt, die zwar flach atmete, aber immer noch nicht zu Bewusstseingekommen war. Lily legte sie sich in den rechten Arm. Sie war so weit den Schutthaufen hinaufgestiegen, wie sie konnte, doch er wurde Stück für Stück unter ihren Füßen weggespült. Vor lauter Angst und Einsamkeit schluchzte sie auf.
Bald würde der Moment kommen, wo sie eine Entscheidung treffen musste. Sie könnte sich vielleicht mit dem steigenden Wasser nach oben treiben lassen und dabei an der Kalksteinwand abstützen, mit Gaille im Arm würde sie es aber niemals schaffen. Schon jetzt war sie der Erschöpfung nahe. Und je länger sie die Bewusstlose festhielt, desto mehr verbrauchte sie ihre eigenen, kostbaren Kraftreserven. Gaille loszulassen war die einzig vernünftige Lösung. Niemand würde es sehen. Niemand würde jemals davon erfahren. Und selbst wenn, würde jeder zugeben müssen, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte.
Na schön,
sagte sie sich.
Ich zähle bis zehn.
Sie holte tief Luft und zählte. Doch bei sieben merkte sie, dass sie es nicht konnte, und hörte auf. Sie konnte es einfach nicht.
Jedenfalls jetzt noch nicht.
Noch nicht.
III
Naguib beobachtete, wie sich Khaled und seine Männer auf den Weg ins königliche Wadi machten. Dass der erste Teil von Knox’ Plan so gut funktioniert hatte, ermutigte ihn. Er holte sein Handy hervor und rief seinen Chef an.
«Sie schon wieder!», seufzte Gamal. «Was ist denn jetzt?»
«Nichts», sagte Naguib. «Ich habe nur den Funkverkehr gehört. Sie suchen nach einem entflohenen Ausländer, oder?»
«Natürlich, das wissen Sie doch.»
«Ich dachte nur, er könnte hier sein. Ein großer Ausländer, ungefähr dreißig, fünfunddreißig. Sein Gesicht ist ziemlich übel zugerichtet.»
«Das ist er! Wo ist er?»
«Er saß mit ein paar anderen Leuten in einem Wagen.»
«Mit welchen Leuten?»
«Habe ich nicht erkannt. Ich habe nur gesehen, wie sie in Richtung königliches Wadi gefahren sind.»
«Bleiben Sie dran, haben Sie gehört?», rief Gamal. «Wir sind so schnell da, wie wir können.»
«Danke.» Naguib beendete das Gespräch und schaute Tarek an, der mir einer Kalaschnikow auf dem Schoß neben ihm saß.
«Alles klar?», fragte Tarek.
«Alles klar», sagte Naguib.
Tarek grinste und kurbelte das Fenster herunter, um seinem Sohn Mahmoud am Steuer des Pick-ups hinter ihnen ein Zeichen zu geben. Auf der Ladefläche hockte ein Dutzend bis an die Zähne bewaffneter
ghaffirs
, die es kaum erwarten konnten, ihre Rechnung mit Khaled zu begleichen.
Es war Zeit loszuschlagen.
Kapitel 51
I
Die Tür von Claires Zelle knallte auf und Augustin stürzte herein, gefolgt von einem kleinen, schlanken Mann in einem elegant geschnittenen dunkelgrauen Anzug. «Haben Sie der Polizei irgendetwas gesagt?», fragte Augustin.
«Nein.» Aber es hätte nicht viel gefehlt. Sie war kurz davor gewesen, sich Hosni anzuvertrauen, als Farooq zurückgekehrt war und sie sofort wieder unter Druck gesetzt hatte. Hosni hatte verzweifelt die Augen verdreht und Claire sogar komplizenhaft zugelächelt. Beiden war bewusst gewesen, wie weit er sie gehabt hatte.
«Gutes Mädchen», freute sich Augustin und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Doch dann trat er einen Schritt zurück, als würde er befürchten, eine Grenze zu überschreiten. «Ohne juristischen Beistand sollten Sie auch nichts sagen.»
«Ich weiß», sagte sie.
«Großartig. Dann kommen Sie mit.»
«Ich kann gehen?»
Augustin deutete auf seinen Begleiter. «Das ist Mister Nafeez Zidan, der beste Anwalt in Alexandria. Ich musste seine Dienste selbst schon ein-, zweimal in Anspruch nehmen. Sie wissen ja, wie es läuft. Er hat alles geregelt. Es steht Ihnen frei zu gehen, wenn Sie sich bereit erklären, morgen Nachmittag wiederzukommen. Ist das in Ordnung?»
«Werden Sie mich begleiten?»
«Natürlich. Und Nafeez auch.»
«Dann bin ich einverstanden», sagte sie. Sie wandte sich an Nafeez. «Vielen, vielen Dank.»
«Ist mir ein Vergnügen», sagte Nafeez.
Sie hakte sich bei Augustin ein, als er sie hinausführte. Plötzlich konnte sie das Revier nicht schnell genug verlassen. «Wir mussten uns leider auf ein paar Bedingungen einlassen, um Ihre Freilassung zu erreichen», erzählte er ihr. «Das Wichtigste war, Sie heute noch
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