Die Jagd am Nil
runzelte die Stirn. Lily hatte recht. Die Mengenangaben waren einfach unglaublich. Sie überprüfte die Übersetzung des hebräischen Originaltextes. «Schauen Sie», sagte sie, «die Gewichte werden mit dem Buchstaben ‹d› bezeichnet. Das wurde als Talenteübersetzt, weil diese Einheit von den Juden und in der Bibel verwendet wurde. Aber wenn wir es hier mit Echnaton zu tun haben und der Schatz aus Ägypten stammte, wurde er mit Sicherheit in Gewichtseinheiten der achtzehnten Dynastie bemessen, und damals verwendete man nicht Talente, auf jeden Fall nicht für Gold. Man verwendete die Einheit Drachme, die durch den Buchstaben ‹d› abgekürzt wurde. Und eine Drachme war nur ein Teil eines Talents, ungefähr zehn oder zwölf Gramm.»
«Dann würden die Mengenangaben also doch einen Sinn ergeben?»
«Auf jeden Fall. Es wäre immer noch eine enorme Menge Gold, aber wesentlich glaubwürdiger. Und schauen Sie sich diese Nummerierungen an. Diese Schrägstriche, diese Zahl zehn. Das ist typisch achtzehnte Dynastie.»
Lily trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. «Aber warum haben Echnatons Anhänger ihr Gold vergraben? Warum haben sie es nicht mitgenommen?»
«Weil sie es nicht konnten», erklärte Gaille. «Nach Echnatons Tod gab es eine heftige Gegenbewegung. Die Traditionalisten übernahmen wieder rigoros die Macht. Die meisten Anhänger Atons zogen sich nach Theben zurück, aber nicht alle. Wenn Ihre These stimmt, dass diese Menschen die Vorläufer der Juden gewesen sind, dann sind sie laut Exodus in einer Nacht-und-Nebel-Aktion geflohen. Und dabei kann man einen solchen Schatz nicht mitnehmen, man wäre damit zu langsam.»
«Also haben sie ihn vergraben», sagte Lily. «Und haben das Versteck auf einer Kupferrolle beschrieben.»
«Sie werden sich keine großen Sorgen gemacht haben», pflichtete Gaille ihr bei. «Schließlich war dieser Ort die Heimat des einzigen wahren Gottes auf Erden, und sie waren zutiefst gläubig. Bestimmt haben sie gedacht, bald siegreich zurückzukehren. Wiewir wissen, verlief die Geschichte anders. Sie flohen aus Ägypten und ließen sich in Kanaan nieder, das sie zu ihrem gelobten Land erklärten. Und als die ursprüngliche Kupferrolle zu oxidieren drohte oder allmählich keiner mehr von ihnen Ägyptisch lesen konnte, fertigten sie eine Kopie an, dieses Mal in Hebräisch. Und später vielleicht noch eine weitere Kopie. Die dann irgendwie in Qumran landete.» Nachdenklich hielt sie inne. «Sie haben von der Apokalypse gehört, oder? Von der großen Schlacht bei Megiddo?»
«Armageddon», sagte Lily.
«Genau. Danach sollte Gott von einem neuen Jerusalem aus herrschen, einer Stadt, die im Buch Ezechiel und in der Offenbarung des Johannes beschrieben wird. In Qumran wurde eine andere Schriftrolle zum ‹Neuen Jerusalem› gefunden. Genauer gesagt, drei Kopien davon, weshalb man darauf schließen kann, dass sie den Essenern eine Menge bedeutete. Die Anlage der Stadt ist bis ins Detail wiedergegeben worden. Größe, Straßen, Häuser, Tempel, Wasserleitungen, einfach alles. Und dieser Plan stimmt mit ziemlich verblüffender Genauigkeit mit einer bestimmten antiken Stadt überein.»
«Mit welcher Stadt?», fragte Lily, obwohl sie die Antwort bereits ahnte.
«Mit dieser», antwortete Gaille und breitete ihre Arme aus. «Mit Amarna.»
IV
Knox betrachtete fassungslos die von Gaille bearbeiteten Fotos. Ein halb freigelegtes Grab, eine Statuette von Harpokrates, Katakomben, mumifizierte menschliche Überreste, eineSchachtel mit abgetrennten menschlichen Ohren. «Mein Gott!», murmelte er, als er zum Mosaik kam.
Augustin tippte auf den Bildschirm. «Weißt du, woran mich das erinnert?»
«Woran?»
«Schon mal von Eliphas Lévi gehört? Ein französischer Okkultist, wie Aleister Crowley, nur dass er früher gelebt hat. Lévi schuf ein sehr berühmtes Bild von einer obskuren Templergottheit namens Baphomet, das zu einem Modell für die moderne Ikonographie des Teufels wurde. Auf dem Bild sitzt er in der gleichen Haltung da wie die Figur in dem Mosaik, die Beine übereinandergeschlagen, die rechte Hand nach oben zeigend. Und er sieht auch genauso aus. Das lange Kinn, die Schlitzaugen, die hervorstehenden Wangenknochen. Verstehst du, was ich meine?»
«Ein bisschen langsamer», sagte Knox und deutete auf seine geschwollene Stirn.
«Keiner weiß genau, woher Baphomet stammte», fuhr Augustin schließlich fort. «Manche behaupten, sein Name wäre eine Verfälschung von
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