Die Jagd am Nil
ihrer Wohnung von ihm in Uniform. Wieder ein Scharren auf dem Felsvorsprung. Ein überraschtes Gemurmel, dann wurde der Sackleinen zurückgezogen, und Gaille stand vor ihnen und verdeckte den Sonnenuntergang.
Wie schnell sich ein Leben ändern kann, dachte Khaled düster, als sie sich anstarrten. Wie plötzlich eine Katastrophe einsetzen kann. Er war seltsam ruhig, genauso wie damals, als er den einzigen heiklen Moment seiner Soldatenlaufbahn erlebt hatte. Er hatte Dienst an einem Kontrollpunkt im Sinai gehabt und einen mit Bauholz und anderem Zimmereibedarf beladenen Lkw angehalten, von dessen Fahrer er sich gerade schmieren lassen wollte, als er unter der Plane einen Gewehrlauf erblickt hatte. Auch damals war er sich der Reaktion seines Körpers völlig bewusst gewesen. Er hatte den Adrenalinschub gespürt, aber auf einesonderbar distanzierte Weise, als würde er die Szene erleben und gleichzeitig im Fernsehen anschauen. Er hatte es genossen, wie sich seine Sinne geschärft hatten und er wachsamer denn je alle Informationen und Details aufgenommen hatte. Er hatte gehört, wie jemand die Luft anhielt, hatte gesehen, wie der Fahrer in den Rückspiegel schaute, hatte gespürt, wie der Lkw leicht wackelte, als jemand nach seiner Waffe griff. Er hatte alle Zeit der Welt gehabt, die Kontrolle zu übernehmen, so als wären den anderen die Hände gebunden und nur er frei gewesen.
Doch dieses Mal war es nicht Khaled, der zuerst reagierte. Gaille drehte sich auf dem Absatz um und lief schreiend davon.
Kapitel 27
I
Knox trug das Tablett in die Bibliothek und stellte es auf den Couchtisch. Er war nicht gerade in der Stimmung für eine Teegesellschaft, aber da Kostas offenbar darauf bestand, versuchte er, seine Schmerzen und Sorgen zu unterdrücken. Immerhin war er hier in Sicherheit. Er schenkte aus der silbernen Kanne zwei Tassen des aromatischen, hellen Tees ein und schnitt zwei dünne Stücke von dem feuchten Schokoladenkuchen. «Sie haben mir gerade von Harpokrates und den Gnostikern erzählt», nahm er den Faden wieder auf und reichte Kostas einen Teller.
«Richtig», sagte Kostas. Er knabberte ein Stück von seinem Kuchen ab und spülte es mit einem anständigen Schluck Tee hinunter. «Es gab sogar eine Gruppe Gnostiker, die Harpokratianer genannt wurden. Auf jeden Fall könnten sie so genannt worden sein, mit Bestimmtheit lässt sich das nicht sagen. In alten Quellen wird nur ein- oder zweimal von ihnen gesprochen, müssen Sie wissen. Außerdem gab es eine andere, wesentlich bekanntere Gruppe Gnostiker mit dem Namen
Karpokratianer
, gegründet von einem Bürger Alexandrias namens Karpokrates. Es ist also möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, dass es sich dabei um ein und dieselbe Gruppe handelt.»
«Ein Schreibfehler?»
«Das könnte natürlich sein, aber unsere Quellen stammen von Leuten, die den Unterschied erkannt hätten. Ich hege daher schon seit jeher den Verdacht, dass die Karpokratianer im Ruf standen, nicht nur Christus, sondern auch Harpokrates zu verehren. Dasswir es also mit einer Verschmelzung beider Namen zu tun haben, wenn Sie so wollen.»
«Ist das plausibel?»
«O ja», sagte Kostas eifrig nickend. «Denken Sie daran, dass die Gnostiker keine Christen im modernen Sinne waren. Im Grunde ist schon der Sammelbegriff Gnostiker irreführend, weil er darauf schließen lässt, dass die einzelnen Gruppierungen eine gemeinsame Lehre verfolgten. Dabei hatte jede Sekte in Wirklichkeit ihre eigenen Anschauungen, die sich eklektisch aus ägyptischen, jüdischen, griechischen und anderen Traditionen speisten. Doch die großen Pioniere des Gnostizismus, Leute wie Valentinus, Basilides und Karpokrates, vertraten tatsächlich ein paar ähnliche Ansichten. Zum Beispiel hielten sie Jesus nicht für Gottes Sohn. Außerdem glaubten sie nicht, dass der jüdische Gott wirklich das allerhöchste Wesen wäre, sondern lediglich ein Demiurg, ein lasterhaftes, zweitrangiges Geschöpf, das sich fälschlich für etwas Besseres gehalten hat. Denn wie kann man sich sonst all die Schrecken dieser Welt erklären?»
«Und wer ist dann das allerhöchste Wesen?»
«Tja, das ist die Frage!» Kostas Augen tränten, seine Wangen waren gerötet. Wie viele Einzelgänger ließ er sich in Gesellschaft schnell für ein Thema begeistern. «Für die Gnostiker konnte es nicht beschrieben oder dargestellt werden, ja man konnte nicht einmal darüber nachdenken, es sei denn in mathematischen Begriffen, und das auch nur von den besonders
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