Die Jagd am Nil
an Ausgrabungen teilnehmen konnte. So bin ich zum ersten Mal nach Amarna gekommen, obwohl ich damals noch zur Schule ging. Dann begann er eine neue Ausgrabung in Mallawi, direkt am gegenüberliegenden Flussufer. Ich sollte seine Assistentin sein. Aber dann hat er das Projekt in letzter Minute verschoben, sodass es erst begann, als meine Ferien vorbei waren. Ich musste wieder in die Schule und konnte ihn nicht begleiten. Später habe ich herausgefunden, dasser an meiner Stelle Daniel Knox mitgenommen hat.» Sie holte tief Luft. «Die Sache ist die, dass mein Vater … also, er hat Männer Frauen vorgezogen.»
«Ach.»
«Deshalb habe ich die ganze Sache in den falschen Hals gekriegt. Ich dachte, er hat mich nicht an seiner Seite haben wollen, weil er sich in Knox verliebt hat, oder dass Knox sich seine Zuneigung erschlichen hat, um den Job zu kriegen. Aber es war völlig anders. Mal abgesehen von allem anderen, ist Knox weder schwul noch wäre es seine Art, sich irgendwo einzuschleimen. Mein Vater versuchte immer wieder, mir die Sache zu erklären, aber da hatte ich mich bereits von ihm abgewendet und wollte nichts mehr hören. Irgendwie hatte ich es mir in meiner Wut bequem gemacht, verstehen Sie? Ich fühlte mich im Recht. Aber die Zeit ging vorbei. Ich wurde älter und merkte, wie sehr ich meinen Vater vermisste. Gerade als ich meinen Stolz überwinden und auf ihn zugehen wollte, erhielt ich den Brief. Ein Unfall. Ein Kletterunfall.»
«O Gaille», sagte Lily. «Das tut mir so leid.»
«Eigentlich hätte es mir egal sein sollen. Schließlich war er schon seit Jahren nicht mehr Teil meines Leben. Aber es war komplett anders. Sein Tod hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Ich habe die üblichen Dummheiten gemacht. Ich habe mit jedem geschlafen, ich habe mit niemandem geschlafen, ich habe getrunken, Drogen genommen. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich mich wieder zusammengerissen hatte. Und dabei hat mir vor allem meine Wut geholfen. Nicht die Wut auf meinen Vater. Sondern auf Knox. Es war schließlich immer mein Job gewesen, Assistentin meines Vaters zu sein. Im Grunde hätte
ich
bei diesem Kletterausflug an der Seite meines Vaters sein sollen.
Ich
hätte ihn gerettet. Dieser kruden Logik folgend, kam ich zu dem Schluss, dass Knox ihn getötet hatte. Ich gab ihm alle Schuld, damit ichmir selbst keine Schuld geben musste. Mein Gott, ich habe ihn gehasst.» Sie schüttelte reuevoll den Kopf und konnte kaum noch glauben, wie heftig ihre Abneigung gewesen war. «Ich meine, ich habe ihn wirklich abgrundtief gehasst.»
«Offenbar hassen Sie ihn nicht mehr», bemerkte Lily. «Was ist geschehen?»
Die Frage überraschte Gaille. Sie musste einen Moment darüber nachdenken. Als ihr die Antwort bewusst wurde, musste sie laut auflachen. «Ich habe ihn kennengelernt», sagte sie.
Kapitel 34
I
Farooq nahm seine Hand nicht von Knox’ Schulter, als er ihn durch das Revier lotste, was eher daran lag, dass er jedem zeigen wollte, wer der Chef war, als dass er befürchtete, Knox könnte davonlaufen. Gemeinsam nahmen sie auf dem Rücksitz des Polizeiwagens Platz, während Hosni das Steuer übernahm. Knox starrte aus dem Fenster, als sie Alexandria hinter sich ließen, erst nach Westen, dann nach Süden fuhren und auf dem niedrigen Damm den Mariutsee überquerten. Er hatte gehofft, dass die Fahrt seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen würde, aber sie löste keine Erinnerungen aus. Seine Unruhe wurde größer. Mit Farooq war nicht zu spaßen. Der Polizist neben ihm schien seine Gefühlslage zu spüren, denn er verschränkte die Arme und schaute aus dem anderen Fenster, als wollte er Distanz zwischen sich und Knox schaffen, als würde er sich schon darauf vorbereiten, Knox die Schuld zu geben, sollte sich die Fahrt als Fiasko erweisen.
Sie bogen auf einen Feldweg und überquerten einen Bewässerungskanal. Zwei uniformierte Wachmänner spielten Backgammon. Irgendwie kam Knox die Szenerie bekannt vor, aber dann war das Gefühl auch schon wieder verschwunden. Die Wachen nahmen ihre Namen auf, fragten nach dem Grund des Besuchs, führten ein Telefonat und winkten sie durch. Sie holperten über einen Pfad und eine kleine Anhöhe hinauf, rollten auf der anderen Seite hinunter und parkten neben einem weißen Pick-up.
Farooq zerrte Knox wie einen räudigen Hund vom Rücksitz. «Und?», fragte er.
Auf der Kuppe der Anhöhe erschienen ein paar junge Mitglieder des Ausgrabungsteams und amüsierten sich darüber, wie Farooq
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