Die Jagd beginnt
Entkommen vor ihr. Ihr grausames Lächeln wurde mit jedem Schritt deutlicher. Marin zupfte Nynaeve am Ärmel. »Wir müssen wegrennen. Wir müssen uns verstecken. Komm, Nynaeve! Cenn hat ihr bestimmt erzählt, wer du bist. Sie hasst es, wenn jemand nur von dir spricht.«
Der silberne Torbogen zog Nynaeves Blicke an. Der Weg zurück … Sie schüttelte den Kopf und versuchte krampfhaft, sich zu erinnern. Es ist nicht wirklich. Sie sah Marin an. Blanke Angst verzerrte das Gesicht der Frau. Ihr müsst standhaft sein, um zu überleben. »Bitte, Nynaeve. Sie hat mich mit dir gesehen. Sie hat mich gesehen! Bitte, Nynaeve!«
Malena kam unaufhaltsam näher. Meine mir anvertrauten Menschen. Der Bogen leuchtete. Der Weg zurück. Es ist nicht wirklich. Mit einem Aufschluchzen riss Nynaeve den Arm aus Marins Griff und stürzte auf das silberne Glühen zu.
Marins Schrei erklang hinter ihr: »Um der Liebe des Lichts willen, Nynaeve, hilf mir! HILF MIR!«
Das Glühen hüllte sie ein.
Mit weit aufgerissenen Augen taumelte Nynaeve aus dem Tor heraus. Sie war sich des Raums und der Aes Sedai kaum bewusst. Dafür hatte sie Marins Schreie noch im Ohr. Sie zuckte nicht zusammen, als ihr plötzlich kaltes Wasser über den Kopf geschüttet wurde.
»Ihr seid reingewaschen von falschem Stolz. Ihr seid reingewaschen von falschem Ehrgeiz. Ihr kommt reingewaschen zu uns, rein in Herz und Seele.« Als die Rote Aes Sedai zurücktrat, kam Sheriam und nahm Nynaeves Arm. Nynaeve fuhr zusammen und erkannte erst dann, wer es war. Sie packte mit beiden Händen den Kragen von Sheriams Kleid. »Sagt mir, dass es nicht wirklich war. Sagt es mir!«
»Schlimm?« Sheriam zog Nynaeves Hände von ihrem Kragen, als sei sie an eine solche Reaktion gewöhnt. »Es wird jedes Mal schlimmer, und das dritte Mal ist am schlimmsten.«
»Ich habe meine Freundin verlassen … Ich habe die mir anvertrauten Menschen im Stich gelassen … in der Hölle zurückgelassen.« Licht, bitte, lass es nicht Wirklichkeit sein. Ich habe nicht wirklich … Dafür muss Moiraine bezahlen. Sie muss!
»Es gibt immer einen Grund, nicht zurückzukehren, etwas, um Euch davon abzuhalten oder abzulenken. Dieses Ter’angreal webt Euch Fallen aus Eurer eigenen Seele, webt sie fest und stark, härter als Stahl und tödlicher als Gift. Deshalb benutzen wir es für diese Prüfung. Ihr müsst mehr als alles in der Welt eine Aes Sedai werden wollen. Dieser Wunsch muss stark genug sein, um allem gegenüberzutreten, um Euch aus jeder Lage zu befreien, um dieses Ziel zu erreichen. Die Weiße Burg lässt nicht weniger gelten. Wir verlangen das von Euch.«
»Ihr verlangt eine ganze Menge.« Nynaeve blickte unverwandt auf den dritten Torbogen, als die rothaarige Aes Sedai sie dorthin führte. Das dritte Mal ist am schlimmsten. »Ich habe Angst«, flüsterte sie. Was kann noch schlimmer werden als das, was ich gerade tat? »Gut«, sagte Sheriam. »Ihr wollt eine Aes Sedai werden und die Eine Macht lenken. Niemand sollte das ohne Ehrfurcht und Respekt versuchen. Die Furcht wird Euch vorsichtig machen, und die Vorsicht wird Euch am Leben halten.« Sie drehte Nynaeve um, damit sie den Bogen ansah, doch noch trat sie selbst nicht zurück. »Niemand wird Euch zwingen, ein drittes Mal einzutreten, Kind.«
Nynaeve leckte sich die Lippen. »Wenn ich mich weigere, werdet Ihr mich fortschicken und mich niemals zurückkommen lassen.« Sheriam nickte. »Und jetzt wird es am schlimmsten.« Sheriam nickte wieder. Nynaeve holte tief Luft. »Ich bin bereit.«
»Das dritte Mal«, sang Sheriam, »ist für das, was sein wird. Der Weg zurück erscheint nur ein einziges Mal. Seid standhaft.«
Nynaeve rannte in den Torbogen hinein.
Lachend rannte sie durch aufwirbelnde Wolken von Schmetterlingen, die sich auf der von Wildblumen überwucherten Hügelkuppe niedergelassen hatten. Die Blumen wirkten wie ein kniehoher Gauklerumhang. Ihre graue Stute tänzelte nervös mit herabhängenden Zügeln am Rand der Wiese, und so hörte Nynaeve mit dem Herumrennen auf, damit sich das Tier nicht noch mehr ängstigte. Einige Schmetterlinge setzten sich auf ihr Kleid, auf gestickte Blumen und aufgenähte Perlen, oder sie flatterten um die Saphire und Mondsteine in ihrem Haar, das ihr lose auf die Schultern hing.
Unterhalb des Hügels erstreckte sich das Halsband der Tausend Seen durch die Stadt Malkier. Darin spiegelten sich die wolkenhohen Sieben Türme, auf denen die Flaggen mit dem Goldenen Kranich wehten. In der Stadt gab es
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