Die Jagd beginnt
Tränen strömten ihr über die Wangen. Sheriam kniete neben ihr nieder. Sie funkelte die rothaarige Aes Sedai an. »Ich hasse Euch«!, brachte sie zornig heraus, wobei sie nach Luft schnappen musste. »Ich hasse alle Aes Sedai!«
Sheriam seufzte leicht und zog Nynaeve auf die Beine. »Kind, beinahe jede Frau, die das durchmacht, sagt dasselbe. Es ist mehr als schwer, den eigenen Ängsten zu begegnen. Was ist denn das?«, fragte sie in scharfem Ton und drehte Nynaeves Hände um, sodass die Handflächen nach oben zeigten.
Nynaeves Hände zitterten in einem plötzlichen Aufwallen von Schmerz, den sie zuvor nicht gefühlt hatte. Genau durch die Mitte beider Handflächen war jeweils ein langer schwarzer Dorn getrieben. Sheriam zog sie vorsichtig heraus. Nynaeve fühlte ein kühles Prickeln, als die Aes Sedai die Eine Macht benutzte und sie heilte. Als die Dornen draußen waren, hinterließen sie jeweils nur eine kleine Narbe in der Handfläche und auf dem Handrücken.
Sheriam runzelte die Stirn. »Es sollte eigentlich keinerlei Narbe zu sehen sein. Und wie seid Ihr zu den beiden Dornen gekommen – nur zwei und jede so genau platziert? Wenn Ihr Euch in einem Schlehenstrauch verfangen habt, solltet Ihr über und über mit Kratzern bedeckt sein.«
»Sollte ich«, stimmte ihr Nynaeve bitter zu. »Vielleicht war ich der Meinung, ich hätte schon genug bezahlt.«
»Man muss immer dafür bezahlen«, meinte die Aes Sedai. »Kommt jetzt. Ihr habt Euren ersten Preis bezahlt. Nehmt, wofür Ihr bezahlt habt.« Sie gab Nynaeve einen kleinen Stoß nach vorn.
Nynaeve wurde bewusst, dass sich nun mehr Aes Sedai im Raum befanden. Die Amyrlin in ihrer gestreiften Stola war da und aus jeder Ajah eine Schwester, die sich neben der Amyrlin aufgereiht hatten. Alle beobachteten Nynaeve. Sie erinnerte sich an Sheriams Instruktionen, stolperte nach vorn und kniete vor der Amyrlin nieder. Sie hielt die letzte Schale, und nun goss sie sie langsam über Nynaeves Kopf aus.
»Ihr seid reingewaschen von Nynaeve al’Meara aus Emondsfelde. Ihr seid reingewaschen von allen Bindungen an die Welt. Ihr kommt zu uns, reingewaschen in Herz und Seele. Ihr seid Nynaeve al’Meara, eine Aufgenommene in der Weißen Burg.« Sie reichte die Schale an eine der Schwestern weiter und zog Nynaeve auf die Beine. »Ihr seid jetzt eine von uns, so ist es besiegelt.«
In den Augen der Amyrlin schien es dunkel zu glühen. Nynaeves Schaudern hatte nichts damit zu tun, dass sie nackt und nass war.
KAPITEL 24
Neue Freunde und alte Feinde
E gwene folgte der Aufgenommenen durch die Säle der Weißen Burg. Gobelins und Gemälde bedeckten Wände, die genauso weiß waren wie die Außenmauern der Burg. Der Fußboden war mit gemusterten Platten ausgelegt. Das weiße Kleid der Aufgenommenen sah genauso aus wie ihres; nur am Saum und an den Ärmeln befanden sich jeweils sieben dünne Farbbänder. Egwene runzelte die Stirn, als sie das Kleid betrachtete. Seit gestern trug auch Nynaeve das Kleid der Aufgenommenen, aber sie schien daran keine Freude zu haben, so wenig wie an dem goldenen Ring – einer Schlange, die den eigenen Schwanz verschlang –, der ihren Rang anzeigte. Egwene hatte die Dorfheilerin nur ein paar Mal getroffen, doch über Nynaeves Augen schien ein Schatten zu liegen, als habe sie Dinge gesehen, die sie von ganzem Herzen ungesehen zu machen wünsche.
»Hier herein«, sagte die Aufgenommene kurz angebunden und deutete auf eine Tür. Sie hieß Pedra und war eine kleine drahtige Frau, ein wenig älter als Nynaeve, und ihre Stimme klang immer kurz angebunden. »Euch sei diese Freizeit gestattet, weil es Euer erster Tag hier ist, aber ich erwarte Euch in der Spülküche, sobald der Gong die Hohe Stunde schlägt, und keinen Augenblick später.«
Egwene knickste und streckte dem Rücken der Davonschreitenden die Zunge heraus. Es war vielleicht nur einen Abend her, dass Sheriam ihren Namen endlich in das Novizinnenregister eingetragen hatte, aber sie war sich bereits darüber im Klaren, dass sie Pedra nicht leiden konnte. Sie drückte die Tür auf und trat ein.
Das Zimmer war einfach und klein und hatte weiß getünchte Wände. Drinnen befand sich eine junge Frau mit rotgoldenem, bis auf die Schultern herunterhängendem Haar, die auf einer der beiden harten Bänke saß. Der Fußboden war kahl; Novizinnen hatten nicht viel Verwendung für Zimmer mit Teppichen. Das Mädchen war ungefähr in ihrem Alter, doch es lag eine solche Würde und Selbstsicherheit in
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