Die Jagd nach dem Vampir
sagte Annelise. »Da sind auch noch Mario aus Mailand, Rafael aus Barcelona und ein paar französische Jungen, deren Namen ich nicht aussprechen kann. Im Ernst, Lori, ich schätze, die Sorbonne hat etwa die Hälfte ihrer männlichen Studenten an Oxford verloren, seit Nell aus Paris heimgekehrt ist, und die Hälfte von denen schwänzt die Seminare, um hier zu arbeiten. Wie sie jemals ihren Abschluss schaffen wollen, ist mir schleierhaft.«
»Das hängt wahrscheinlich davon ab, was sie studieren.«
»Ich weiß, was die studieren«, sagte Annelise. »Und dafür gibt es in Oxford keinen Abschluss.«
Wir waren etwa zehn Meter vom offenen Stalltor entfernt, als ich die Blüte entdeckte, die so viele eifrige Bienen nach Anscombe lockte. Wie immer, wenn ich Nell nach einer Weile wiedersah, musste ich erst einmal Atem holen. Sie war schlichtweg die schönste junge Frau, die ich je gesehen hatte. Wenn ich versuchte, sie jemandem zu beschreiben, murmelte ich am Ende stets: »Kennen Sie die Venus von Botticelli? So ist Nell, nur noch schöner.«
Eleanor Harris war groß und gertenschlank, goldene Locken umrahmten ein makelloses, ovales Gesicht, dessen ebenmäßige und delikate Züge wie in Marmor gemeißelt schienen. Ihre dunkelblauen Augen waren so unergründlich wie der Nachthimmel und leuchteten wie funkelnde Sterne. Sie war anmutig wie eine Nymphe, würdevoll wie eine Königin und sah aus wie Botticellis Venus. Ein bisschen schöner noch, wie gesagt.
Es spielte keine Rolle, dass sie eine ordinäre blaue Regenjacke trug, eine ziemlich zerschlissene rehbraune Reithose, alte Lederhandschuhe und schwarze, dreckige Gummistiefel. Egal, wie alt die Klamotten waren, und ob ihre Stiefel voller Stallmist waren – Nell verwandelte alles in Poesie.
Ich wollte gerade ihren Namen rufen, als Annelise mich am Arm packte und hinter die Stallmauer zog.
»Schau dir mal dieses Bild an«, sagte sie.
Vorsichtig spähte ich hinter der Mauer vor und sah einen großen, breitschultrigen Mann mit flachsblondem Haar, der am anderen Ende des Hofs vor einer Wasserpumpe das Kopfsteinpflaster fegte. Er richtete den Blick seiner himmelblauen Augen fest auf Nell und bemerkte gar nicht, dass auch er beobachtet wurde – von Kit Smith.
Kit stand verdeckt in dem gewölbten Durchgang, der den hinteren Hof des Anwesens mit dem Stallungshof verband. Ich sah, wie sein Blick langsam von dem flachshaarigen Jungen zu Nell wanderte. Doch dann wandte er sich jäh ab und ging in Richtung des anderen Hofs davon, so als wollte er die Szene, die er beobachtet hatte, nicht stören.
Annelise schüttelte den Kopf. »Wenn Kit eifersüchtig auf Friedrich ist«, flüsterte sie, »ist er ein ebenso großer Narr wie Lucca. Weiß er denn nicht, dass Nell nur ihm gehört?«
»Er weiß es«, sagte ich, ebenfalls flüsternd. »Aber er will es nicht zulassen. Wahrscheinlich wünscht er sich, dass sie sich in Friedrich oder einen der anderen Stallburschen verliebt. Er glaubt, er sei zu alt für sie.«
»Er spinnt«, meinte Annelise.
Ich nickte. »Ich stimme dir so was von zu.«
Wir lugten wieder zum Stall hinüber, aber die spannende Szene hatte sich aufgelöst. Nell lenkte ihre Schubkarre um die Ecke des Stalls und zum Misthaufen, derweil Friedrich ihr hinterherlief, treu wie Ham, ihr alter Labrador.
Annelise rollte die Augen, als wollte sie sagen: »Alle Männer spinnen«, und begab sich in einen der Ställe auf der Suche nach den Jungen.
Ich machte mich zum Innenhof auf, um Kit zu suchen.
Als ich Kit Smith zum ersten Mal begegnet war, lag er in Lumpen gekleidet vor mir, unrasiert, ungepflegt, ohne ein Dach über dem Kopf und halb verhungert, aber all das spielte keine Rolle. Kits atemberaubend gutes Aussehen ließ alles andere vergessen. Darin ähnelte er Nell. Aber da war noch mehr. Beim ersten Blick in seine violetten Augen hatte ich die Seele eines Heiligen entdeckt.
Seitdem hatte sich so manches für Kit geändert. Er hatte einen festen Arbeitsplatz auf Anscombe Manor, wo er auch wohnte. Er hatte sich den struppigen Bart abrasiert, das vorzeitig ergraute Haar kurz geschnitten, und seine hagere Gestalt hatte Muskeln angesetzt. Sein Gesicht – so schön, dass es mich zu Tränen rühren konnte –, das einst eingefallen und bleich gewesen war, strahlte robuste Gesundheit aus. Das Einzige an ihm, was sich nicht geändert hatte, waren seine Augen. Noch immer sah ich die Seele eines Heiligen darin.
Dazu muss man sagen, dass er ein gepeinigter Heiliger war, der sich
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