Die Judas-Papiere
kommt es mir manchmal so vor«, sagte er und hatte dabei wieder dieses hin tergründige Lächeln auf seinem bleichen Gesicht.
Die Enttäuschung bei Byron und seinen Gefährten, nicht auf An hieb diesem toten Templer auf die Spur zu kommen, war offensicht lich.
»Andererseits kann ich jedoch nicht völlig ausschließen, dass dieser Satz sehr wohl seine Rechtfertigung hat«, fuhr Graf Dracula im nächsten Moment fort. »Denn es ist gut möglich, dass sich Lord Pem brokes Eintrag in seinem Notizbuch auf den Titel eines Buches bezieht, auf das er in meiner Bibliothek gestoßen ist. Dort sind mehrere Tausend Bände versammelt, ein Großteil davon alte Folianten, die meine Vorfahren zusammengetragen haben. Und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich die meisten dieser Bände noch nie in die Hände genommen habe und somit auch nicht weiß, welche seltenen bibliophilen Schätze sich unter diesen Werken befinden.«
Nun hellten sich ihre Gesichter schlagartig wieder auf und Horatio sagte mit neu erwachter Hoffung: »Natürlich! Bei dem ›toten Temp ler‹ könnte es sich um einen Buchtitel handeln!«
»Dann wissen Sie ja, womit Sie den morgigen Tag ausfüllen kön nen. Stöbern Sie nur nach Herzenslust in der Bibliothek nach diesem Buch!«, forderte Graf Dracula sie auf. »Sie finden die Bibliothek hier unten am Ende des Ganges, der hinter der Tür zwischen den beiden Ritterrüstungen liegt. Ich selbst werde morgen leider den ganzen Tag bis in den Abend hinein nicht zu Ihrer Verfügung stehen, da ich einige wichtige auswärtige Dinge zu erledigen habe. Aber kurz nach Sonnenuntergang werde ich wohl wieder zurück sein. Und seien Sie versichert, die Nächte auf Burg Negoi haben auch ihre ganz besonde ren Reize.« Wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Dann wandte er den Kopf und rief: »Ah, da kommt ja auch Bogan, mein Hausdiener! Ihre Zimmer sind also gerichtet. Wunderbar!«
Byron drehte sich zu der Tür um, die lautlos in ihrem Rücken auf gegangen war, und fuhr beim Anblick des Mannes, der dort auf Filz pantoffeln den Rittersaal betrat, betroffen zusammen. Harriet, Alis tair und Horatio erging es nicht anders. Harriet sog scharf die Luft ein und es klang, als könnte sie nur mit größter Selbstbeherrschung einen Laut des Erschreckens in ihrer Kehle zurückhalten.
Der Hausdiener Bogan war ein grässlich entstellter Mann von unbestimmtem Alter, der tief gebeugt ging . . . nein, genauer gesagt humpelte. Sein Rücken war nämlich verkrümmt und hatte sich in Schulterhöhe zu einem Buckel verformt, der seine schwarze, knielange Filzjacke so hoch ausbeulte, als hätte er sich einen Sack Kartoffeln zwischen die Schulterblätter gebunden. Verkrümmt waren auch seine kurzen Beine. Aber damit nicht genug, war er auch noch mit einer Vielzahl von dicken schwarzen Warzen geschlagen, die sein Gesicht bedeckten. Zwischen diesen Warzen saß eine knollenartige Nase, aus deren Öffnungen dichte Haarbüschel herauswuchsen. Ein vorspringendes Pferdegebiss mit hässlich braunen Zähnen trat aus dem Mund hervor. Und während das linke Auge erblindet und so milchig wie eine Mondscheibe war, ragte das rechte übergroß als Glubschauge aus der Augenhöhle. Zotteliges, strähniges Haar bedeckte seinen großen Kopf, der in keinem rechten Verhältnis zum bescheidenen Maß seiner verkrüppelten Statur stand.
Graf Dracula musste kein Hellseher sein, um ihre Empfindungen und Gedanken zu lesen. Ein kehliges Lachen drang aus seiner Kehle.
»Jaja, die Natur hat es nicht gut mit ihm gemeint, wie man sieht. Und dass man ihm als Kind die Zunge herausgeschnitten hat, kommt zu allem noch dazu. Also wundern Sie sich nicht, wenn er auf Ihre Fragen keine Antworten gibt, auch wenn Sie das Rumänische beherr schen sollten. Manchmal denke ich, der gute Bogan hat für die Figur des Quasimodo in dem Roman Der Glöckner von Notre-Dame dieses französischen Schriftstellers Modell gestanden«, sagte er leichthin. »Aber Bogan ist treu und verlässlich, der beste Diener, den ich je hat te. Nichts ist ihm zuwider.« Niemand sagte etwas, denn der Schock saß ihnen noch immer in den Knochen.
»Nun, die Zimmer sind gemacht und Sie werden müde sein. Deshalb möchte ich Sie jetzt auch nicht länger von der verdienten Nachtruhe abhalten«, fuhr der Graf fort. »Ihr Wohlergehen ist mir ein großes Anliegen und wir werden in den nächsten Tagen sicherlich noch viel Zeit für anregende Gespräche haben. Denn ich brenne darauf, möglichst viel über Ihr Land
Weitere Kostenlose Bücher