Die Judas-Papiere
mussten. Denn er spannte die Pferde nicht vor dem Seitentrakt der Stallungen aus, sondern lenkte sie durch ein doppelflügeliges Tor hinein. Augenblicke später zog er die Flügel von innen zu und verriegelte sie.
»Sieht hier jemand eine Glocke oder einen Klopfer, um sich be merkbar zu machen?«, fragte Alistair ungeduldig, als die Minuten verstrichen, ohne dass ihnen geöffnet wurde. »Nicht gerade die feine Art, uns hier in der Kälte warten zu lassen!«
Horatio schüttelte den Kopf. »Nein, nichts dergleichen zu sehen.
Wir werden uns wohl gedulden müssen, bis der Herr Graf uns die Eh re gibt.«
»Merkwürdig, das Ganze«, murmelte Harriet beklommen.
Der Anwalt schwieg.
Endlich hörten sie, wie auf der anderen Seite der Tür Ketten rassel ten, ein Schlüssel in das schwere Eisenschloss fuhr und danach noch zwei Metallriegel zurückgeschoben wurden. Dann schwang die Bal kentür knarzend nach innen auf und vor ihnen stand ein hochge wachsener älterer Mann, der bis auf eine weiße Hemdbrust mit stei fem Stehkragen von Kopf bis Fuß in wollenes Schwarz gekleidet war. Ein weißer Schnurrbart bedeckte seine Oberlippe.
Byron und seine Gefährten waren sich nicht sicher, ob sie es mit dem Grafen oder einem seiner Bediensten, etwa seinem Butler, zu tun hatten. Doch das klärte sich sogleich, als der Mann eine einla dende Geste mit der Hand machte und sie in vorzüglichem Englisch, jedoch mit schwerem Akzent ansprach.
»Willkommen in meinem Haus. Treten Sie frei und freiwillig he rein!«, begrüßte er sie recht seltsam. Und an Harriet gewandt, fuhr er fort: »Ich bin immer entzückt, eine junge Dame in der Blüte ihrer Ju gend zu meinen Gästen zählen zu dürfen. Der Zufall wollte es, dass erst vor wenigen Tagen zwei ausländische Wanderinnen sich in die se Gegend verirrt haben und in meiner Burg zu Gast sind. Also kom men Sie herein. Gehen Sie gesund wieder und lassen Sie etwas von der Freude zurück, die Sie mit hereingebracht haben!« Damit streck te er seine Hand aus.
Byron, der ihm von allen am nächsten stand, ergriff sie. Er zuckte zusammen, denn die Hand des Grafen war ungewöhnlich kalt. »Graf Kovat, es ist uns eine Ehre . . .«, begann er.
Der Burgherr unterbrach ihn lächelnd: »Kovat ist ein Name, den ich schon lange nicht mehr gehört habe, junger Freund. Zwar ist er einer der Namen meines weit verzweigten Geschlechts, aber seit geraumer Zeit ziehe ich einen anderen Namen vor, den zu verwenden ich nun auch Sie bitten möchte.«
»Und der wäre?«, fragte Alistair von hinten.
»Graf Dracula.«
9
B yron gab es schnell auf, sich den Weg einprägen zu wollen, auf dem Graf Dracula sie nach einem Wirrwar von dunklen Gängen und Wendeltreppen in eine Art von Rittersaal führte. Waffen aller Art, von Degen und Schwertern über Lanzen und Spieße bis hin zu fürch terlichen Streitäxten und Morgensternen, bedeckten die Wände. Alle Waffen befanden sich in einem erstaunlich guten Zustand, wie sen sie doch nur wenige Rostflecken auf. Und in den Ecken standen komplette Ritterrüstungen wie reglos erstarrte Wachen.
Byron blickte sich aufmerksam um und suchte auf den Rüstungen nach einem Zeichen wie dem unverwechselbaren Tatzenkreuz der Templer, das ihnen das Versteck von Mortimers Hinweis hätte verra ten können. Doch zu seiner Enttäuschung vermochte er ein solches nirgends im Saal zu entdecken.
In dem Kamin, in dem man vermutlich einen ganzen Ochsen am Spieß hätte braten können, brannte ein Feuer aus halben Baumstäm men, das der Größe des Raumes gerecht wurde. Und in gut gewähl ter Nähe dazu stand ein schwerer Tisch, der zu ihrer Überraschung schon für fünf Personen gedeckt war.
Graf Dracula lächelte, als er ihre Überraschung bemerkte. »Bogan, mein getreuer Diener, weiß flink zu arbeiten. Er wird sich nachher auch Ihres Gepäcks annehmen. Im Augenblick ist er noch damit be schäftigt, die vier zusätzlichen Zimmer für meine unerwarteten, aber ebenso willkommenen Gäste herzurichten«, teilte er ihnen mit. »Deshalb kann ich Ihnen leider keine Gelegenheit geben, sich vor dem Essen erst etwas frisch zu machen. Und da ich gerade im Begriff stehe, meine Dienerschaft bis auf Bogan durch geeigneteres Personal zu ersetzen, erlauben Sie mir, dass ich selbst für Ihr Wohlergehen sorge. Mir werden Sie es hoffentlich nicht verübeln, dass ich mich am Nachtessen nicht beteilige, denn ich habe schon diniert.«
Alistair ließ sich nicht lange bitten und setzte sich sofort an den Tisch. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher