Die Judas-Papiere
untertänigen Winseln verharrten sie wenige Pferdelängen schräg vor der Kalesche.
Der Kutscher stieß einen knappen Zischlaut aus und vollführte mit seiner Peitsche eine gebieterische Geste. Erneut kam von den Wölfen schrilles Winseln und Jaulen, das Byron und seinen Gefährten durch Mark und Bein ging und wie animalisches Aufbegehren gegen einen Befehl klang, dem sie eigentlich nicht zu folgen bereit waren. Doch dann zogen sie die Schwänze ein, wandten sich unter Knurren von der Kalesche ab und trotteten zurück in die Richtung, aus der sie gekom men waren. Augenblicke später hatte der Wald sie verschluckt.
»Was um alles in der Welt war das?«, fragte Horatio fassungslos.
»Die Wildnis der Karpaten hat ihre eigenen Gesetze, mein Herr«, kam es mit einem leisen Auflachen von ihrem Kutscher. Und damit trieb er das Gespann auch schon wieder an.
»Unglaublich, was da gerade geschehen ist!«, stieß Harriet hervor, während sie tiefer in die Bergregion des Negoi eindrangen. »Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, ich hätte es nicht für möglich gehalten!«
Ein rätselhaftes Lächeln huschte über das Gesicht des Anwalts, der ihr gegenübersaß. »Wer Transsylvanien kennt, weiß, dass sich hier seltsame Dinge ereignen.«
Byron wollte ihn fragen, was er denn damit meine und mit welcher Art von seltsamen Dingen sie noch zu rechnen hätten. Er kam jedoch nicht mehr dazu. Denn da hatte die Kalesche auch schon das Waldstück durchquert und das offene Gelände einer halbkreisförmigen Bergkuppe erreicht, hinter der eine tiefe Schlucht klaffte.
»Da ist sie!«, rief Alistair erregt, der in Fahrtrichtung saß, und deu tete nach vorn. »Das muss sie sein, die Burg Negoi!«
»Heiliger Pinsel!«, entfuhr es Horatio beim Anblick der Burg. »Was für eine klotzige Festung! Und das hier, mitten im Nirgendwo! Sagt mal, spielen mir meine Augen einen Streich oder schwebt dieser Klotz tatsächlich in der Luft?«
Im schwachen Licht des Mondes sah es wahrhaftig so aus, als schwebte der mächtige Komplex der Burg jenseits der abstürzenden Felswand, von der eine Zugbrücke zu der Anlage hinüberführte, wie von Geisterhand gehalten über der Schlucht. Hohe, mit Zinnen ge säumte Mauern umschlossen die Burg. Zwei kleinere Wehrtürme flankierten das Torhaus. Zwei weitere, bedeutend größere und wuchtig breite Wohntürme mit dunklen Fensterhöhlen erhoben sich im hinteren Teil der Anlage. Ein niedriger, winkelförmiger Trakt ver band sie. Verwinkelt war auch der Lauf der hohen Mauern, bildeten sie doch den Grundriss eines fünfzackigen Sterns.
Als die Kalesche über die Zugbrücke glitt, sahen sie zu ihrem Er staunen, was der Grund für ihren Eindruck war, die Burg schwebe in der Luft. Die finstere Festung ruhte auf einem breiten Felssporn! Die ser Felssporn wuchs wie das nach oben gebogene Horn eines riesi gen Nashorns, dessen Spitze vom Machetenhieb eines Giganten ab getrennt worden war, tief unten aus der Felswand empor.
Aus der Tiefe drang ein fernes Rauschen zu ihnen herauf. Und als By ron sich über den Rand der Kalesche beugte, erhaschte er noch einen kurzen Blick in den schwindelerregenden Abgrund und auf einen weiß schäumenden Fluss, der sich dort unten durch die Schlucht wand.
Im nächsten Moment passierten sie auch schon das vordere Tor-haus und gelangten in einen rautenförmigen Vorhof, dessen Seiten wände sich zu einem zweiten steinernen Tor hin weiteten. Nun stell ten sie fest, dass sich große Teile der Anlage in einem ruinenhaften Zustand befanden.
Der eigentliche Burghof befand sich hinter dem Vorplatz und war von beträchtlicher Ausdehnung. Ein Eindruck, der noch dadurch ver stärkt wurde, dass von ihm aus mehrere mächtige runde Torwege, zu denen eisenbeschlagene Bohlentüren gehörten, in verschiedene andere kleine Nebenhöfe führten.
Der Kutscher hielt vor einem dieser Tore. Es war von einer massi ven, mit Eisendornen gespickten Tür verschlossen. Man konnte sie sogar auf dieser Seite durch einen Vorlegebalken zusätzlich versper ren, wie die schweren Eisenhalterungen rechts und links im Mauer werk verrieten.
»Nehmen Sie Ihr Gepäck und warten Sie hier!«, forderte der Kut scher sie auf. »Der Herr Graf wird Sie gleich persönlich begrüßen und hereinlassen!«
Kaum waren sie ausgestiegen und hatten ihre Reisetaschen an sich genommen, als der Mann mit der Kalesche auf die andere Hofseite hinüberfuhr, wo sich offenbar die Stallungen befanden, die von be trächtlicher Tiefe sein
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