Die Judas-Papiere
Gang um den rechtwinkligen Knick herum zu folgen, wusste er später nicht zu sagen. Schläfrigkeit gepaart mit Gedankenlosigkeit musste wohl dafür verantwortlich gewesen sein. Jedenfalls wurde es ihm nicht bewusst, dass er sein Zimmer schon passiert hatte, als er vor sich zu seiner Linken einen schwachen rötlichen Lichtschein wahrnahm, der dort aus einer Türöffnung in den Gang fiel.
Unwillkürlich nahm er an, dass sein Kaminfeuer von der Zugluft noch einmal kurz aufgeflackert war, weil er die Tür offen stehen ge lassen hatte.
Er erreichte die Tür und wollte schon ins Zimmer treten, als eine Frauenstimme zu ihm drang, die einen merkwürdig erstickten, zu gleich lustvollen Laut von sich gab und dann leise rief: »Ja, Gelieb ter!... Alles soll dir gehören, du Herrscher der Nacht!... Ganz dein will ich sein!«
Byron erstarrte mitten in der Bewegung.
Geliebter?
Im ersten Moment schoss ihm der unerträgliche Gedanke durch den Kopf, es wäre Harriet, die er da so lustvoll aufstöhnen und sich einem Mann hingeben hörte. Einem Mann, bei dem es sich dann nur um Alistair handeln konnte. Der Gedanke stach wie ein Messer durch seine Brust.
Aber schon in der nächsten Sekunde wurde ihm bewusst, dass es gar nicht Harriets Stimme war, die er da gehört hatte. Das Englisch dieser Frau hatte einen deutlich amerikanischen Akzent! Und sofort wurde ihm klar, dass er sich in der Tür geirrt hatte. Schamröte schoss ihm ins Gesicht, weil er hier wie ein Voyeur vor dem Schlafzimmer dieser fremden Frau, die zu den beiden amerikanischen Gästen gehören musste, stand und beinahe mitten in eine höchst intime Szene hineingeplatzt wäre. Dass diese beiden Frauen angeblich von ihrem lebensgefährlichen Abenteuer in den Bergen noch zu geschwächt waren, um an den Mahlzeiten im Rittersaal teilzunehmen, fiel ihm in diesem Moment nicht ein. Auch nicht die Frage, wer denn wohl dieser Geliebte sein mochte, dem die Frau sich hingab.
Schon wollte er sich auf Zehenspitzen zurückziehen, als er eine ihm wohlvertraute männliche Stimme hörte: »Halt jetzt endlich still und beug den Kopf zur Seite, mein Herzblut!«
Es war die Stimme von Graf Dracula!
Byron verharrte und tat dann etwas, was eigentlich seiner Erzie hung und seinem ganzen Wesen völlig widersprach. Er spähte um die Türkante herum ins Zimmer. Es lag im flackernden Licht niedri ger Flammen, die im Kamin aus offenbar eben erst neu aufgelegten Holzscheiten aufzüngelten.
Sein Blick fiel auf zwei Frauen von vielleicht dreißig Jahren, die sich das breite, baldachinüberwölbte Himmelbett teilten. Beide la gen, nur mit zarten Nachtgewändern bekleidet, auf dem seidigen Laken.
Die linke der beiden Frauen lag wie in tiefem Schlaf hingestreckt, den Kopf unnatürlich nach links gedreht und den Mund weit geöff net. Der mit Rüschen gesäumte Kragen ihres Nachthemdes wies am Hals einen langen Riss auf. Dunkle Flecken, die Byron im ersten Mo ment für verschütteten Wein hielt, hatten das dünne Gewebe ihres Nachthemdes beschmutzt.
Das Gesicht der anderen Frau, die zu ihrer Linken im Bett lag und deren dünnes Gewand einen wohlgeformten weiblichen Körper er kennen ließ, vermochte er dagegen nicht zu sehen. Denn dort stand Graf Dracula tief über sie gebeugt.
Er küsste sie auf den Hals und gab dabei ein merkwürdig saugen des Geräusch von sich, das in Byrons Ohren so wollüstig klang wie ein sexueller Akt.
Plötzlich platzte im Kamin ein Harzknoten mit lautem Knall und Graf Dracula hob den Kopf und ließ von der Frau ab. Als er sich kurz aufrichtete und umblickte, fiel der Feuerschein auf sein Gesicht. Sei ne Lippen waren blutbefleckt und lange Blutfäden hingen von den nadelspitzen Eckzähnen herab.
Wie zur Salzsäule erstarrt, stand Byron im tiefen Schlagschatten der Tür. Ihn schauderte, denn er wusste instinktiv, dass er Zeuge ei ner entsetzlichen Schändung geworden war. Dass die Frau den Gra fen dazu ermuntert hatte, änderte nichts an dieser Tatsache. Denn für Byron stand fest, dass Graf Dracula die beiden Frauen auf irgend eine Weise in seinen Bann geschlagen hatte und dass er sie beide zur Befriedigung einer seltenen Lust missbrauchte. Einer Lust, die in je dem Fall mit Blut zu tun hatte.
Byron wagte nicht zu atmen und fürchtete, im nächsten Augen blick von Graf Dracula bemerkt zu werden. Und er zweifelte nicht da ran, dass ihm dann Gefahr für sein Leben drohte.
Doch da entfuhr der Frau neben Graf Dracula ein tiefer Seufzer. So fort wandte sich ihr der Burgherr
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