Die Judas-Papiere
gespreizten Finger seiner linken Hand und presste den vorderen Lederdeckel so weit nach hinten, dass er fast den hinteren Einband berührte.
»Passen Sie bloß auf, dass Sie nicht das ganze Notizbuch unter der Kerze in Flammen aufgehen lassen!«, warnte Harriet. »Sonst endet unsere Suche nach dem Judas-Evangelium schon, noch bevor sie richtig begonnen hat!«
»Eine Überlegung, die mir nicht ganz fremd ist«, erwiderte Byron trocken, hielt die erste beschriebene Seite mit Zeigefinger und Dau men vom Rest des Journals weg und bewegte nun die Kerzenflamme unter der Seite vorsichtig hin und her. Dabei achtete er darauf, dass die Flamme das Papier zwar gut erhitzte, ihm jedoch nicht zu nahe kam und vor allem nicht zu lange unter einer Stelle verharrte. Denn ein Loch in die Seite zu brennen, konnte bedeuten, dass er damit entscheidende Informationen unwiderruflich vernichtete.
Voller Spannung blickten sie alle auf Flamme und Buchseite. Doch nichts geschah. Keine geheimen Zeichen traten unter den Bibelzitaten zutage, obwohl Byron die Unterseite schon reichlich erhitzt hatte.
»Nichts!«, stellte Horatio enttäuscht fest.
»Wir haben noch die Seiten zwei und drei«, sagte Byron gelassen, obwohl auch er einen Stich der Enttäuschung verspürte und sich ins geheim fragte, ob er das mit der Milch falsch gedeutet hatte.
Er schlug die erste Seite um, nahm die zweite Seite wie eben zwi schen Daumen und Zeigefinger, sodass sie vom Rest des Buches wegragte, und setzte auch sie mit gleichmäßig hin und her pendeln den Bewegungen der Hitze der Kerzenflamme aus.
Erneut hielten sie alle den Atem an und starrten gebannt auf die Seite, die mit Bibelstellen, niedergeschrieben in schwarzer Tinte, be deckt war.
»Da! ...Da kommt etwas Bräunliches hervor!«, rief Harriet plötz lich erregt. »Eine Linie! . . . Und Zeichen!«
Horatio, Alistair und Harriet sprangen auf und drängten sich aufge regt um Byron und das Notizbuch in seiner Hand, das unter der Ker zenflamme sein erstes Geheimnis preisgab.
Unter den tintenschwarzen Zeilen der Bibelzitate begann sich in bräunlicher Farbe ein geometrisches, eckiges Gebilde abzuzeichnen, das von fremdartigen Schriftzeichen umgeben war.
»Heiliger Hieronymus, da ist es!«, stieß Horatio begeistert hervor. »Sie haben recht gehabt!«
Byron lächelte zufrieden. »Ja, ich denke, wir haben gefunden, wo nach wir gesucht haben.«
»Und das wäre?«, fragte Alistair, der von ihnen allen die ungüns tigste Sicht auf die Seite mit den bräunlichen Linien und Zeichen hat te und sich jetzt den Hals verrenkte.
Byron hob das Buch an und hielt ihm die Seite entgegen, während er mit gedämpfter Stimme verkündete: »Das Hexagon!«
3
B yron hatte zu seinem eigenen Notizbuch gegriffen und das Hexa gon mit seinen umlaufenden Schriftzeichen auf die nächste freie Sei te hinter den langen Zahlenkolonnen übertragen, was gar nicht so einfach gewesen war. Denn die schwarzen Tintenstriche von Morti mer Pembrokes Handschrift hatten so manch ein braunes Schriftzei chen überlagert. Und wenn er nicht die Sprache beherrscht hätte, in welcher die Begriffe rund um das Hexagon verfasst waren, wäre ihm wohl vieles entgangen oder in einer verzerrten, falschen Bedeutung erschienen. Aber nun lag es deutlich und frei von den überlagernden Bibelzitaten vor ihnen.
»Also gut, das Sechseck, das so wichtig für das Auffinden des Ver stecks sein soll, haben wir offensichtlich gefunden. Und ich muss sa
gen, das haben Sie sauber hingekriegt, Bourke! Ehre, wem Ehre ge bührt!«, sagte Alistair aufgekratzt und prostete ihm mit seinem Scotchglas zu. »Wir dürfen also Hoffnung auf die 4000 Pfund haben!«
»Dieses erste Rätsel war leicht zu lösen. Genau genommen war es nicht mehr als ein Kinderspiel«, sagte Byron. »Und ich habe den Ver dacht, dass Mortimer Pembroke das gewusst und es uns mit Absicht so einfach gemacht hat. Aber ich glaube nicht, dass die anderen Codes ähnlich rasch zu entschlüsseln sein werden! Denn wir dürfen diesen Mortimer nicht nur als Geistesgestörten sehen und sollten nicht vergessen, dass er ein hochintelligenter Mann gewesen sein muss, der viele Sprachen beherrscht hat, unter anderem sogar Ara mäisch, und sich gewiss auch noch in anderen Bereichen ein beacht liches Wissen angeeignet haben dürfte.«
»Kann sein, dass die nächsten Rätsel erheblich schwerer zu lösen sein werden, aber immer eins nach dem andern«, sagte Horatio fröh lich. »Und jetzt kommt es ja wohl erst mal darauf
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