Die Judas-Papiere
an, das Hexagon zu studieren und herauszufinden, was diese Schriftzeichen zu bedeu ten haben.«
»Ist das Aramäisch?«, fragte Harriet.
Byron schüttelte den Kopf. »Nein, das ist eindeutig Hebräisch. Die beiden Sprachen sind jedoch eng miteinander verwandt. Aramäisch war schon viele Jahrhunderte vor Christi Geburt weit verbreitet, im Perserreich war es sogar Reichssprache und wurde von Kleinasien bis zum Indus gesprochen. Das Hebräische hat die zweiundzwanzig Schriftzeichen des Aramäischen übernommen, die sogenannte Quadratschrift.«
»Und was sagt diese Quadratschrift da rund um das Hexagon?«, wollte Alistair wissen.
»Nun, sechsmal reichlich Rätselhaftes«, sagte Byron und begann, ihnen die sechs hebräischen Texte zu übersetzen. »Auf der oberen Linie des Hexagons steht der Begriff gadot ha-hades, was übersetzt ›Die Ufer des Hades‹ bedeutet.«
»Was nach der griechischen Mythologie die Welt der Toten ist«, warf Horatio ein und verzog das Gesicht. »Klingt nicht nur rätselhaft, sondern auch wenig einladend!«
»Als Nächstes kommt ha-jom ha-awni ›Der steinerne Tag‹«, fuhr By ron fort. »Gefolgt von kol ha-nami und ha-milah ha-glujah la-ajin, was so viel wie ›Die Stimme des Propheten‹ und ›Das sichtbare Wort‹ heißt.«
»Das wird ja immer verrückter«, sagte Harriet und machte ein be sorgtes Gesicht.
»Und auf den beiden aufsteigenden Seitenlinien stehen die Aus drücke ohel ha-ro’eh ›Das Zelt des Hirten‹ sowie ha-chadron ha-cha schuch ›Die dunkle Kammer‹«, übersetzte Byron und schrieb dann die sechs Begriffe untereinander in sein Notizbuch.
Alistair lachte kurz auf, aber er klang alles andere als belustigt. »Da hat man endlich ein Rätsel gelöst – und was passiert? Als Lösung er hält man sechs neue Rätsel, und zwar ohne jeden Hinweis, wie wir diese knacken sollen! Der steinerne Tag! Die Stimme des Propheten!
Das Zelt des Hirten! Was sollen wir bloß damit anfangen? Wir haben doch nicht den geringsten Anhaltspunkt, wohin uns das führen soll, oder?«
»Ich glaube nicht, dass es so düster aussieht, Mister McLean«, sagte Byron. »Denn diese sechs Begriffe sind mir nicht ganz unbekannt. Ich bin mir sicher, irgendwo in diesem Notizbuch schon auf den einen und anderen davon gestoßen zu sein. Mortimer Pembroke hat ja fast auf jeder Seite einige hebräische und aramäische Sätze, zumindest jedoch ein paar Worte hinterlassen. Gut möglich, dass die anderen Texte nur als Verwirrung und Tarnung für diese sechs Hinweise ge dacht sind.«
»Dann gilt es, als Nächstes die passende Stelle für ›Die Ufer des Ha des‹ in Mortimers Notizbuch zu finden«, sagte Harriet. ». . . die dann logischerweise irgendetwas mit Wien zu tun haben muss!«
»Richtig«, pflichtete Byron ihr bei.
»Warte mal! In einem Hexagon gibt es doch wie in einem Kreis gar keinen Anfang und kein Ende! Woher wollen Sie also wissen, dass die Reihenfolge mit den ›Ufern des Hades‹ beginnt und mit der ›Dunklen Kammer‹ endet, Bourke?«, fragte Alistair mit einem Stirn runzeln. »Bloß weil ›Die dunkle Kammer‹ gut zu einem Versteck passt?«
»Nein, weil Mortimer Pembroke ein Zeichen hinterlassen hat, an welcher Stelle und mit welchem Begriff die Reihenfolge beginnt, nämlich dieses Alpha!«, erwiderte Byron und tippte auf das geschwungene Zeichen, das im Hexagon unter der oberen horizontalen Linie zu sehen war und den ersten Buchstaben des griechischen Alphabets darstellte. »Und da man hebräische Texte nicht von links nach rechts liest, so wie wir es gewohnt sind, sondern von rechts nach links, was ein Mann wie Mortimer Pembroke sicherlich bei der Planung und Beschriftung dieses Hexagons bedacht hat, deshalb sind die Begriffe hier nicht im Uhrzeigersinn, sondern in umgekehrter Richtung zu lesen.«
»Oh!«, sagte Alistair überrascht. »Das ist ein Alpha? Ich habe es für das christliche Zeichen des Fisches gehalten!« Er grinste etwas verle gen in die Runde und zuckte dann die Achseln. »Tja, Griechisch stand nun nicht gerade auf dem kargen Lehrplan der Waisenhäuser und Schulen, durch die man mich geprügelt hat!«
»Na und? Was ist schon groß dabei? Auch ich habe nie die Nase in eine griechische Grammatik gesteckt«, sagte Harriet forsch und setz te etwas süffisant hinzu: »Dafür haben wir ja unseren hochgeschei ten Mister Bourke.«
Byron war viel zu freudig erregt, um sich über ihre spitze Bemer kung zu ärgern und etwas darauf zu erwidern. Zudem hatte er den Eindruck,
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