Die Judas-Papiere
dass sie damit mehr Alistair aus seiner Verlegenheit helfen als ihn verletzen wollte. Deshalb reagierte er auf ihre Spitze mit einem selbstbewussten Lächeln, griff zu Mortimer Pembrokes Notizbuch und begann damit, die Seiten nach einem dieser sechs Begriffe abzu suchen. Dass er schnell fündig wurde, überraschte ihn nicht. Vielmehr hatte er damit gerechnet, dass er nicht lange würde suchen müssen.
»Sie haben ganz richtig vermutet, dass der Begriff ›Die Ufer des Ha des‹ im Wien-Teil auftauchen muss, Miss Chamberlain«, verkündete er. »Denn genau da steht er auch! Nämlich hier zwischen der Seite mit den Zeichnungen des Beethoven-Denkmals und der Kirche Maria Stiegen und der übernächsten Seite, die zu einem großen Teil von einem schräg über das Blatt gekritzelten, langen aramäischen Text stück sowie von Skizzen grässlicher Masken, Totenschädel und Kno chenhaufen bestimmt wird.« Er deutete auf die hebräischen Schrift zeichen, die Mortimer Pembroke unter die Zeichnung einer Pyrami de mit einem strahlenden Auge, einem typischen Symbol der Frei maurer, geschrieben hatte.
»Ach du Schreck!«, stieß Horatio hervor, als sein Blick auf die Seite fiel, die Byron aufgeschlagen hatte. »Das sind ja die verrückten an derthalb Seiten, wo der irre Mortimer bis auf die Kritzeleien am Rand von oben bis unten nur biblische Namen aneinandergereiht hat!«
»Und was sind das für Namen?«, wollte Alistair wissen.
Byron überflog die Zeilen flüchtig und las dabei einige der Namen vor: »Kenas . . . Erech . . . Nehemia . . . Malchisedek . . . Lamech ...Ha wila . . .«
»Also, obwohl ich in meinem Leben durchaus oft den Gottes dienst besucht habe und auch viele Geschichten der Bibel kenne, habe ich die meisten von diesen Namen noch nie gehört«, gab Har riet zu.
»Ich auch nicht«, sagte Horatio. »Zumindest sind mir die Namen Ke nas, Lamech und Hawila fremd.«
»Kenas ist ein Nachkomme Esaus, der Sohn des Elifas. Lamech ist ein Nachkomme Sets, den Eva dem Adam gebar, nachdem Kain sei nen Bruder Abel erschlagen hatte«, klärte Byron sie auf. »Und Hawila ist ein Land im Garten Eden, in dem es große Mengen von Gold und Karneolsteinen geben soll und das vom Fluss Pischon umschlossen wird. Es sind Namen, die ausnahmslos im Buch Genesis vorkom men.«
»Und das soll eine codierte Botschaft sein?«, fragte Alistair skep tisch, zog das Buch mit der aufgeschlagenen Seite, wo die aneinan dergereihten Namen begannen, zu sich heran und schüttelte ungläu big den Kopf. »Das sind ja insgesamt gute dreißig, vierzig Zeilen vol ler Namen, die sich ständig wiederholen!«
Das Bild, das sich ihm darbot und bei dem es sich um einen ver schlüsselten Text handeln sollte, war in der Tat alles andere als er mutigend.
Alistair schüttelte noch einmal den Kopf. »Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie Sie das entschlüsseln wollen, Bourke!«
Byron wusste es auch nicht. Was er jedoch wusste, war, dass in die ser scheinbar sinnlosen Aneinanderreihung von biblischen Namen der Ort versteckt war, wo sie den ersten Hinweis auf das Versteck der Papyri des Judas finden würden!
4
D er Ostende-Wien-Express lief fahrplanmäßig am frühen Abend des nächsten Tages in den Nordbahnhof am Praterstern ein, der einige Straßenzüge nördlich des Zentrums im Wiener Bezirk Leopoldstadt lag.
Die Hauptstadt der kaiserlichen und königlichen Monarchie Öster reich-Ungarn unter der Regentschaft von Franz Joseph I. begrüßte die vier Reisenden aus England mit noch schlechterem Wetter, als sie es auf ihrer Überfahrt von Dover nach Ostende erlebt hatten. Denn es regnete in Strömen.
Byrons Stimmung war gedrückt, als er dem Zug entstieg. Das lag jedoch nicht am miserablen Wiener Wetter, sondern an der verschlüsselten Botschaft. Bislang war er dem Code zu ihrer Entzifferung noch nicht auf die Spur gekommen. Er hatte während der langen Zugfahrt nach dem System gesucht, das Mortimer Pembroke verwendet hatte. Doch das ständige Gerüttel des Waggons hatte nicht gerade dazu beigetragen, seine Konzentration zu schärfen. Und alle schriftlichen Versuche, in seinem Notizbuch allerlei Listen anzufertigen und mathematische Berechnungen anzustellen, hatten zu ärgerlichen Schmierereien und einer krakeligen Handschrift geführt, die ihm die Arbeit sehr schnell verleidet und ihn bewogen hat ten, sich erst im Hotel in Wien wieder schriftlich mit dem Code zu befassen.
Als sie im Strom der anderen Reisenden vom ungemütlich zugigen Perron in die hohe
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