Die Judas-Papiere
By ron am frühen Mittag mit einer in Wachspapier gewickelten Rolle von seinem Behördengang ins Bristol zurückkehrte und sich nach sei nen Reisegefährten erkundigte. »Fräulein Chamberlain und Herr McLean sind noch nicht zurück. Aber Herr Slade war vor einer knap pen Stunde hier und hat wissen wollen, ob die Gemäldegalerie in der Akademie der bildenden Künste geöffnet hat. Ich habe das bejaht und dann hat er sich von mir den Weg dorthin beschreiben lassen.«
»Wenn Sie das bitte für mich noch einmal tun würden«, sagte Byron.
»Mit Vergnügen, Herr Bourke! Die Kaiserlich-königliche Akademie der bildenden Künste liegt drüben am Schillerplatz, also gleich um die Ecke«, versicherte der Empfangschef und beschrieb ihm den kurzen Weg. »Schellen Sie an der Tür mit der Nummer 152. Dann öffnet Ih nen der Aufseher. Und wenn Sie mir die Bemerkung erlauben: Ein kleines Trinkgeld in Höhe von zwanzig, dreißig Hellern ist dort fürs Aufschließen üblich.«
Byron bedankte sich und kehrte wieder zurück in den nasskalten Regen, der schon seit Tagen über Wien niederging, wie er von einem Mitarbeiter des Kanalamtes erfahren hatte. Die Droschke, mit der er gekommen war, ratterte gerade mit einem anderen Hotelgast davon. Zwar griff der Portier zu seiner Trillerpfeife und versicherte, ihm schnell zu einer anderen Mietkutsche zu verhelfen. Doch Byron wollte nicht warten und entschied sich, den Weg zu Fuß zurückzulegen, zumal es nicht mehr in Strömen regnete, sondern nur noch nieselte. Bewehrt mit Regenschirm und gut verpackter Papierrolle, ging er schnellen Schrittes den Kärntnerring in Richtung Operngasse hi nauf. Zum Glück hatte der Empfangschef nicht übertrieben und bis zur Akademie der bildenden Künste war es wirklich nicht sehr weit.
Wenige Minuten später stand Byron vor dem prächtigen Gebäude, das vor etwas mehr als zwanzig Jahren im italienischen Renais sancestil erbaut worden war. Er klingelte an der Tür mit der Nummer 152, erhielt vom Aufseher Einlass, drückte ihm dreißig Heller Trink geld in die Hand und ließ sich den Weg zu Horatio Slade in den ers ten Stock weisen, wo die kaiserlich-königliche Gemäldegalerie un tergebracht war.
Er fand Horatio im fünften Saal, in dem mehrere Gemälde und Skiz zen von Rubens an den Wänden hingen. Der Meisterfälscher saß ge genüber dem Rubensbild Boreas entführt die Oreithyia auf einer Bank, hatte einen Zeichenblock auf den Knien und führte den Bleistift in seiner Hand mit raschen Bewegungen. Er schien völlig in seine Ar beit vertieft.
Als Byron ihm über die Schulter auf den Zeichenblock schaute, staunte er nicht schlecht. Er hatte angenommen, Horatio würde das Rubensbild kopieren. Doch der Meisterfälscher war dabei, eine ganz eigene, faszinierend moderne Version dieser mythologischen Ent führung zu zeichnen!
Byron machte sich nun bemerkbar, indem er sich räusperte. »Sie scheinen erheblich mehr zu können, als nur die Werke von berühmten Malern zu kopieren, Mister Slade«, sagte er, während er um die Bank herumging.
Horatio fuhr zusammen und blickte zu ihm auf. »Oh, Sie sind es, Mis ter Bourke!« Er schlug den Zeichenblock zu und steckte den Stift weg. »Ich nehme an, man hat Ihnen im Hotel gesagt, wo ich zu finden bin.«
Byron nickte. »Es tut mir leid, wenn ich Sie in Ihrer Arbeit störe. Das lag nicht in meiner Absicht. Wenn Sie noch eine Weile ungestört sein wollen, sagen Sie es nur. Ich warte dann im Hotel auf Sie und die anderen.«
Horatio winkte ab. »Ach was, das war nur eine Spielerei, um mich von anderen Dingen abzulenken.«
»Ich glaube, genug von Kunst zu verstehen, um sagen zu können, dass mir das nicht nach einer Spielerei ausgesehen hat«, erwiderte Byron und setzte nach kurzem Zögern hinzu: »Zweifellos haben Sie das Talent, sich in der Kunstwelt einen eigenen Namen zu machen – wenn Sie es nur ernsthaft wollen.«
Horatio lachte trocken auf. »Ja, vielleicht wenn ich im Grab liege, aber nicht zu meinen Lebzeiten! Der Ruhm in der bildenden Kunst kommt doch fast immer nur post mortem, Mister Bourke. Und für ge fällige Genremalerei, die gerade in Mode ist und für die man von den reichen Pfeffersäcken der Gesellschaft ordentlich bezahlt wird, gebe ich mich nicht her!«
»Und deshalb kopieren Sie lieber fremde Meisterwerke, stehlen die Originale und verbringen Jahre im Gefängnis?«, fragte Byron und setzte sich zu ihm auf die Bank.
Horatio sah ihn einen Augenblick lang schweigend an, bevor er antwortete:
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