Die Judas-Papiere
»Mein Vater war Kunstschreiner, der völlig in seinem Beruf aufging, besonders nach dem frühen Tod meiner Mutter. Er war einer der besten seiner Zunft und wurde deshalb auch oft in die Her renhäuser der Reichen gerufen, wenn es galt, schwierige Restaurierungsarbeiten auszuführen, einfallslose Wandvertäfelungen zu veredeln oder besondere Möbelstücke anzufertigen. Er brachte mir das Zeichnen bei, lehrte mich die Gesetze der Perspektive und der räumlichen Dimension und sorgte dafür, dass ich eine gute Schulbildung erhielt. Nie drängte er mich dazu, in seine Fußstapfen zu treten. Und als er die Gewissheit hatte, dass meine Leidenschaft für die Malerei keine flüchtige Laune war, scheute er sich nicht, seine ehemaligen Arbeitgeber aus den Kreisen des Adels und des Großbürgertums um Empfehlungsschreiben für mich anzugehen.«
»Ihr Vater muss ein außergewöhnlicher Mann gewesen sein – und Sie sehr geliebt haben.«
Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über Horatios Gesicht. »Ja, das war er, Mister Bourke. Und ich werde nie vergessen, dass er neun zehn schwere und oftmals demütigende Bittgänge zu diesen Herren auf sich genommen hat, um mir zu einem Kunststipendium an der Universität zu verhelfen. Elfmal ist er erst gar nicht empfangen wor den und nicht über die Schwelle des Dienstboteneingangs gekom men. Achtmal hat er sein Anliegen vorbringen dürfen. Dreimal ist er übel beschimpft und wie ein Bettler aus dem Haus geworfen wor den. Fünf dieser vornehmen Herrschaften versprachen ihm auf he rablassende Art, einen Empfehlungsbrief zu schreiben. Doch nur ein Einziger hielt sein Versprechen. Dank dieser Empfehlung erhielt ich an der Slade School of Fine Art ein volles Stipendium.«
»Slade wie Horatio Slade?«, fragte Byron überrascht.
Horatio lachte kurz auf. »Ja, diese Namensgleichheit, die mein Vater für ein gutes Omen hielt, hat mich in dem einen Jahr, das mir auf der Kunstschule vergönnt gewesen ist, einiges an Nerven gekostet. Denn natürlich bin ich immer wieder von anderen Studenten und Professoren darauf angesprochen worden, ob ich wohl mit jenem Fe lix Joseph Slade verwandt sei, der 1871 diese Londoner Kunstschule als Stiftung ins Leben gerufen hat.«
»Wieso war Ihnen nur ein Jahr vergönnt?«
»Weil mein Vater zu Beginn meines zweiten Studienjahrs zu fünf zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde und ich als Sohn eines über führten Verbrechers für die Schule nicht mehr tragbar war«, sagte Horatio bitter. »Hätte ich Aussatz gehabt, es hätte kaum schlimmer sein können. Jedenfalls war ich über Nacht mein Stipendium los.«
»Ja, aber . . .«, setzte Byron zu einer Frage an.
»Ich weiß, Sie wollen wissen, wie mein Vater auf die schiefe Bahn gekommen und zum Verbrecher geworden ist«, fiel Horatio ihm ins Wort. »Nun, nichts dergleichen ist geschehen. Mein Vater hatte nur das Pech, zur falschen Zeit an einem falschen Ort gewesen und des halb Opfer eines Komplotts geworden zu sein.«
»Und wer hat aus welchen Gründen dieses Komplott gegen Ihren Vater geschmiedet?«
»Zwei diebische Schwestern, die im Haus von Lord Shelby als Zimmermädchen angestellt waren, einen Ausweg aus ihrer täglichen Plackerei suchten und ihn auch fanden – und zwar auf Kosten meines Vaters«, berichtete Horatio. »Als mein Vater damals den Auftrag erhielt, Arbeiten im Herrenhaus von Lord Shelby auszuführen, stahlen die beiden Schwestern kostbaren Schmuck aus dem Zimmer von Lady Shelby. Eines der weniger wertvollen Stücke, einen Perlring, versteckten sie, in ein Stück Tuch eingewickelt, ganz unten im Werkzeugkasten meines Vaters. Als Lady Shelby den Diebstahl bemerkte, erinnerten sich die beiden Schwestern, meinen Vater aus dem Ankleidezimmer ihrer Herrin kommen gesehen zu haben. Und als die Polizei den Ring im Werkzeugkasten meines Vaters fand, halfen alle Unschuldsbeteuerungen nichts. Er galt als überführt. Und weil er beim Prozess auf seiner Unschuld beharrte und sich in den Augen des Gerichtes weigerte, das angebliche Versteck des restlichen Diebesgutes zu nennen, wurde er zu fünfzehn Jahren Schwerstarbeit im Zuchthaus verurteilt.« Er machte eine kurze Pause, bevor er hinzusetzte: »Er starb schon im dritten Jahr an einer Lungenentzündung. Aber innerlich war er zu diesem Zeitpunkt schon längst tot. Deshalb war die tödliche Krankheit eigentlich eine Erlösung für ihn.«
Byron wusste erst nicht, was er darauf sagen sollte. Auch wenn er solche Art der Rache nicht rechtfertigen konnte, so
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