Die Judas-Papiere
deshalb stundenlang eine Flut von In formationen anhören, die für unser Vorhaben ohne jeden Nutzen sind. Aber das ließ sich nicht vermeiden, denn andernfalls hätte ich Misstrauen erregt. Immerhin glaube ich jetzt, dass ich mich in der Unterwelt Wiens rund um die Lerchengasse gut genug auskenne, da mit wir uns da unten nicht verirren.«
»Dann steht unserem Ausflug in die Kanalisation also nichts mehr im Weg?«, vergewisserte sich Horatio.
»Nein«, sagte Byron. »Und wenn Miss Chamberlain und Mister McLean ihren Teil der Aufgaben erfolgreich erledigt haben, werden wir heute Nacht in den Hades von Wien hinuntersteigen und dort nach der Halle mit Mortimer Pembrokes Menetekel suchen!«
7
A nton Tenkrad schauderte, als das unruhig flackernde Licht der Fa ckel auf den gemauerten Durchgang zur angrenzenden Gruft fiel. Verrottete Holzsärge und geborstene Rundhölzer versperrten einen Großteil der Öffnung. Das dreistöckige Regal aus einst soliden Bal ken hatte beim Einsturz der beiden unteren Lagen seine morbide Fracht vor den Durchgang gekippt. Der obere Teil der Stellage, die eine tiefe Nische der Katakombe ausgefüllt hatte, stand jedoch noch. Und dort lagen die Särge der Verstorbenen noch immer in Reih und Glied, wenn auch schon mit bedrohlicher Neigung.
Von den herabgestürzten Särgen waren mehrere aufgebrochen. Überall ragten zwischen den vermoderten Balken das Gebein und die Schädel der Toten hervor. An manchem Knochenarm und Totenbein hingen noch Fetzen von der Kleidung, mit denen die Toten in dem weitläufigen System der Katakomben unter dem Stephansdom bestat tet worden waren. Eine knochige Hand sah besonders schaurig aus. Sie hatte den modrigen Deckel durchstochen und schien sich ihm wie eine Klaue mit weit gespreizten Fingern entgegenzustrecken, als woll te sie ihn mit dieser stummen Geste aus dem Reich der Toten um Ret tung bitten – oder nach ihm greifen, um sich an ihm festzuhalten.
Anton Tenkrad verfluchte den faulen Domdiener, der keine Zeit gehabt hatte, ihn bis zu jener Gruft zu führen, wo der Perfectus auf ihn wartete. Mit den gleichmütigen Worten »Sie finden den Herrn aus England in der letzten Gruft am Ende des Gangs!« hatte er kehrt gemacht und ihn an diesem grässlichen Ort sich selbst überlassen. Aber Anton Tenkrad grollte auch dem englischen Perfectus, dass er ihn für seinen Rapport ausgerechnet an diesen Ort bestellt hatte.
Er hörte morsches Holz und auch Knochen unter seinen Schuhen brechen und zwängte sich durch den Durchgang. Auch dahinter wa ren in den Rundbögen zu beiden Seiten Gebeine und Schädel bis zur Decke aufgestapelt. Seit dem Jahr 1486 gab es diese Grüfte unter dem Dom, die bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts der Bestattung Verstorbener aus den besser gestellten Familien gedient hatten und immer wieder erweitert worden waren. Später dann, als die Leichenzüge in das Reich der Toten untersagt worden waren, hatte man die Särge auf einer Rutsche, die an der Außenseite des Doms installiert war, einfach in die Tiefe stürzen lassen.
Mit schnellen Schritten strebte Anton Tenkrad auf das Licht zu, das nun aus der hintersten der Katakomben zu ihm drang. Er schluckte jedoch heftig und musste sich zum Weitergehen zwingen, als er an einer Wand vorbeikam, an der mehrere mit Kleiderfetzen behange-ne Leichen gegen das Mauerwerk gelehnt standen oder mit angezo genen Knien hockten, als hätte man sie hier für eine Ruhepause ab gestellt. Die Toten schienen ihn mit ihren leeren Augenhöhlen anzu starren.
Er wandte den Kopf zur Seite, trat durch den rund gemauerten Durchgang und stand dann im Licht der Leuchte, die der Perfectus Graham Baynard auf einen Steinsarkophag gestellt hatte. Er selbst saß auf einem benachbarten Steinsarg und las in einem dünnen, le dergebundenen Buch. Bei seinem Eintreffen schlug er das Buch zu, sodass Anton Tenkrad nun das große goldgeprägte M auf dem De ckel sehen konnte. Es war das Zeichen, das jedes Exemplar der Heili gen Schrift ihres Ordens zierte.
»Ich hoffe, ihr habt sie nicht aus den Augen gelassen, und du bringst gute Nachrichten, Tenkrad«, sprach ihn der englische Perfec tus an. Dabei schwang die goldene Kette vor seiner Brust sanft hin und her, deren Anhänger einen gespaltenen Totenschädel darstellte.
Auch Anton Tenkrad trug wie jedes Mitglied des Ordo Novi Templi eine Kette mit solch einem Anhänger. Während die seine jedoch voll ständig aus Silber gearbeitet war, bestand bei dem Engländer der angedeutete
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