Die Judas-Papiere
geschichtliches Ereignis ansetzt.«
»Was kann denn bedeutsamer sein als Christi Geburt und eine ei gene Zeitrechnung rechtfertigen?«, fragte Harriet, und dass sie dabei ihre Hand auf den goldenen Kettenanhänger mit dem Bildnis der Muttergottes legte, geschah eher unbewusst als bewusst. »Oder sind sie dem Christentum feindlich gesinnt?«
»Ganz und gar nicht, auch wenn umgekehrt die Kirche mit ihnen ihre Probleme hat und die Zugehörigkeit zu den Freimaurern als schwere Sünde betrachtet, aber das steht auf einem anderen Blatt«, sagte Byron. »Für das Verständnis ihrer Art von Zeitrechnung muss man jedoch wissen, dass die Freimaurer ihre Wurzeln in den Kreisen der biblischen Baumeister und Architekten mit ihrem jahrtausendelang gehüteten Geheimwissen um Statik und andere unverzichtbare Baulehren sehen. Nicht von ungefähr sind zwei ihrer bekanntesten Symbole das Winkeleisen und der Zirkel des Baumeisters. Deshalb beginnt für die meisten Freimaurer die Zeitrechnung auch mit der Erschaffung der Welt, die sie mit 4000 vor Christi Geburt ansetzen.«
»Und wo haben sie dieses genaue Datum her?«, wollte Alistair wis sen. »Hat ihnen das vielleicht der Allmächtige zugeflüstert?«
Byron zuckte die Achseln. »Sie haben das Datum irgendwie aus dem Alten Testament errechnet. Fragen Sie mich jedoch nicht, wo rauf sie ihre Rechnung stützen. Jedenfalls versieht beispielsweise die irische Großloge heute Dokumente mit dem Jahresdatum 5899, wo bei sich diese Zahl aus den 4 000 Jahren vor Christi Geburt und den 1899 Jahren unserer christlichen Zeitrechnung zusammensetzt. Und hinter dieses Datum kommt der Zusatz A. L.«
»Der was bedeutet?«, fragte Horatio.
»A. L. ist die Abkürzung für anno lucis im Jahr des Lichts. Bei ande ren Logen beginnt die Zeitrechnung mit der Fertigstellung von Salo mos Tempel im Jahr 1000, zu dem sie dann das aktuelle Jahr addie ren. Diese Logen fügen der Jahreszahl ein A. Dep. hinzu für anno de positiones, im Jahr der Hinterlegung«, führte Byron weiter aus. »Für wieder andere Logen wie die Royal Arch beginnt die Rechnung dage gen mit dem Jahr, in dem Zerubabel den Bau des zweiten Tempels begann. Diese rechnen dann nur 530 Jahre zu unserer aktuellen Jah reszahl hinzu und schreiben dahinter A. I. für anno inventionis, im Jahr der Entdeckung.«
»Reichlich verrückt diese Art der Zeitrechnung, wenn ihr mich fragt«, meinte Alistair kopfschüttelnd.
»Aber dennoch viel gebräuchlicher, als die meisten glauben, und schon gar keine Erfindung der Freimaurer«, sagte Byron. »Auch die Tempelritter kannten ja eine eigene Datierung. Ihre Zeitrechnung begann mit der Gründung ihres Ordens, dem aktuellen Jahr minus 1118 und dem Zusatz A. O. für anno ordinis im Jahr des Ordens.
Wenn es den Orden der Tempelritter noch gäbe, wäre für ihn jetzt das Jahr 781 A. O.«
»Gut, solche Datierungen sind bei Orden und Geheimbünden also nichts Ungewöhnliches«, fasste Horatio zusammen. »Bleibt nun die Frage, was im Jahr 1535, offenbar dem Gründungsjahr der Gesell schaft der Wächter, in der Weltgeschichte so Bedeutsames geschehen ist, dass ein Geheimbund dieses Datum als sein Jahr null ansetzt. Hat einer eine Idee, was das sein könnte?«
Alistair hob in einer Geste der Kapitulation die Hände. »Ich habe nicht den Schimmer einer Ahnung, Freunde! In den Waisenhäusern, durch die ich geschleust wurde, ist nicht einmal das Wort ›Weltge schichte‹ gefallen. Ich denke, das ist eine Frage für unseren gelehr ten Byron.«
Dieser zuckte jedoch auch ratlos mit den Achseln. »Auf Anhieb fällt mir zu diesem Datum auch nicht viel ein«, gestand er. »Ich weiß nur, dass Michelangelo im Jahr 1535 von Papst Paul III. den Auftrag für ein Fresko in der Sixtinischen Kapelle erhielt und dass in der Lutherstadt Wittenberg in jenem Jahr erstmals Hofgerichte mit ausgebildeten Ju risten eingerichtet wurden, die nicht mehr nach örtlichem Rechts brauch und Landesrecht, sondern fortan nach den Regeln des römi schen Rechts zu entscheiden hatten. Aber weder das eine noch das andere kann etwas mit dieser Gesellschaft der Wächter zu tun haben. Aber ein Besuch morgen in einer der vorzüglichen Bibliotheken Wiens wird uns bestimmt mehr Auskunft über das Datum geben.«
Harriet nickte. »Ja, morgen ist auch noch ein Tag. Gehen wir zu Bett. Im Augenblick können wir ja doch nichts tun und drehen uns nur im Kreis. Außerdem ist es wichtiger, dass wir so schnell wie mög lich den nächsten Hinweis finden, als dass
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