Die Judas-Papiere
Frühstückssaal getroffen, und weil Alistair und Harriet hatten ausschlafen wollen, waren sie über eingekommen, die Zeit zu nutzen und sich in der nahen Universitäts bibliothek über die Ereignisse des Jahres 1535 zu informieren. Auch hatten sie einen Funken Hoffnung gehabt, in einem der Stichwortka taloge auf die Begriffe Ordo Novi Templi und Ehrenwerte Gesellschaft der Wächter zu stoßen. Eine Hoffnung, die sich jedoch trotz intensiver Suche nicht erfüllt hatte.
»Da sind Sie ja endlich!«, rief Harriet und schob das Schachbrett mit einem Ruck von sich, sodass einige Figuren dabei umkippten, was sie jedoch nicht kümmerte. »Er wollte einfach nicht herausrücken, sondern bestand darauf, bis zu Ihrer Rückkehr zu warten!«
»Zu warten womit?«, fragte Horatio und setzte sich zu ihnen. By ron folgte seinem Beispiel.
»Na, mit seinem Coup!«, erwiderte Harriet aufgeregt. »Sehen Sie doch nur, wie er grinst! Wie Graf Koks von der Gasanstalt! Würde mich nicht wundern, wenn er gleich vor Stolz platzt!«
Byron machte ein ungläubiges Gesicht. »Sagen Sie bloß, Sie haben aus all den Zeichnungen wirklich Mortimers Code herausgefunden?«
Harriet hatte nicht übertrieben. Alistair grinste in der Tat von ei nem Ohr zum andern.
»Ja, es hat mich den Rest der Nacht gekostet, aber ich habe die har te Nuss geknackt«, bestätigte Alistair aufgekratzt. »Doch bevor ich Ihnen verrate, was dabei herausgekommen ist, sind Sie erst einmal dran mit Erzählen. Haben Sie etwas Brauchbares über die Wächter und den Orden vom Neuen Tempel herausfinden können?«
Horatio schüttelte den Kopf. »Wir sind alle Stichwortkataloge durchgegangen, haben aber keinen einzigen Hinweis gefunden. Wir haben es im wahrsten Sinne des Wortes mit Geheimbünden zu tun.«
»Dass beide Namen selbst in der umfangreichen Fachliteratur über Geheimgesellschaften nirgends erwähnt werden, nicht einmal als Fußnote, lässt darauf schließen, dass es sich entweder um sehr klei ne, sehr junge oder sehr disziplinierte Organisationen handelt, de ren Mitglieder strengstes Stillschweigen wahren«, sagte Byron.
»Und was haben Sie über das Jahr 1535 herausgefunden, das für diese ehrenwerten Wächter offenbar das Jahr null ihrer Zeitrechnung ist?«, wollte Harriet wissen. »Und machen Sie es bitte kurz, damit Alistair endlich damit herausrücken muss, wohin es von Wien aus geht!«
»Eigentlich nichts sonderlich Erhellendes«, gestand Byron etwas niedergeschlagen.
Horatio verzog das Gesicht zu einer spöttischen Miene. »Na ja, im merhin wissen wir jetzt, dass 1535 Lima von den Spaniern gegründet und die erste funktionsfähige Taucherglocke erfunden wurde und dass Kaiser Karl V. einen Feldzug gegen die Seeräuber von Tunis unternahm und dabei angeblich 20 000 christliche Sklaven befreite.«
»Das einzig Interessante an diesem Datum ist die Hinrichtung von Kardinal John Fisher, dem Bischof von Rochester, und des legendä ren Sir Thomas More, Kanzler des Königs, die beide von Cromwell auf das Schafott geschickt wurden, was mir gestern doch gänzlich entfallen war«, fügte Byron hinzu. »Beide hatten sich ja geweigert, König Henry VIII. als Oberhaupt der Kirche von England zu akzeptie ren und ihm auch in dieser Funktion den Treueeid zu schwören. Für Kardinal Fisher und Sir Thomas More war und blieb der Papst das einzig legimitierte Oberhaupt der katholischen Kirche.«
Harriet runzelte leicht die Stirn. »War das nicht jener König Henry, der sechs Ehefrauen gehabt hat und über den es den bitterbösen Ab zählreim Geschieden, geköpft, gestorben. Geschieden, geköpft, überlebt! gibt?«
Alistair lachte. »Auch eine Möglichkeit, zu einer gewissen Unsterb lichkeit zu gelangen!«
Byron nickte. »Ja, genau diesen Henry VIII. meinte ich. Weil Papst Clemens VII. ihm die Scheidung von seiner Ehefrau Katharina von Aragon verweigerte, brach er mit der römisch-katholischen Kirche, beauftragte Cromwell mit dem Aufbau der anglikanischen Kirche und setzte sich selbst als deren Oberhaupt ein. Aber so dramatisch es damals auch war, dass die Kirche von England sich von Rom ge trennt hat und herausragende Männer wie der Bischof von Rochester und Sir Thomas More für ihren Glauben auf das Schafott stiegen, so wüsste ich doch nicht, was das oder irgendein anderes Ereignis in je nem Jahr mit dem Geheimbund der Wächter zu tun haben könnte.«
Harriet zuckte die Achseln. »Und wennschon! Was soll es uns küm mern? Es genügt ja wohl, dass wir von ihrer Existenz
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