Die Judas-Papiere
Denn ein christlich gesinnter Orden, der sich in der Nach folge der legendären Tempelritter sieht, würde bei einem Datum ganz sicherlich entweder die christliche Zeitrechnung verwenden oder seine Zeitrechnung mit der Gründung des Templerordens 1118 beginnen. Im letzteren Fall hätten wir dann nicht erst das Jahr 364, sondern die Nachricht müsste auf den 7. November 781 datiert sein.«
»Klingt logisch«, sagte Harriet.
»Aber auch wenn man irgendein Jahr in der Zeit zwischen 1307 und 1314, als der französische König den Templerorden aus machtpoliti schem Kalkül zerschlug und die Ordensoberen wegen angeblicher Ketzerei auf die Scheiterhaufen schickte, als Jahr null für diesen Ordo Novi Templi ansetzt, auch dann käme eine völlig andere Zahl als 364 heraus«, sagte Byron und nahm nun die kleine Stoffrolle aus der Schachtel.
Kaum hatte er die ersten drei, vier Umwicklungen gelöst, als er sah, dass die unteren Schichten von Blut durchtränkt waren. Er zog nun am Ende des Leinenstreifens und im nächsten Moment fiel ein blutiger Daumen in die Schachtel, der von einer scharfen Schneide direkt hin ter dem Gelenk am rechten Handballen abgetrennt worden war.
»Allmächtiger!«, entfuhr es Harriet entsetzt.
Auch Byron, Horatio und Alistair schluckten beim Anblick dieses blutigen Daumens und wurden blass.
»Wer immer das zu verantworten hat, er hat damit über den Mann mit der Schirmmütze eine drakonische Strafe verhängt!«, sagte Ho ratio. »Denn ohne Daumen ist seine rechte Hand jetzt so gut wie nutzlos. Versucht nur mal, ohne Daumen irgendetwas zu greifen oder einen Knopf zu schließen!«
»Eine harte Strafe«, sagte Harriet. »Aber er hat keine Skrupel ge habt, auf uns zu schießen, und dabei in Kauf genommen, dass wir womöglich tödlich getroffen werden. Zumindest die ersten beiden Schüsse waren direkt auf uns gezielt!«
»Wer macht bloß so etwas, jemandem einen Daumen von der Hand schneiden?«, fragte Horatio.
»In vergangenen Jahrhunderten hat man nachts heimlich von den Leichnamen Hingerichteter die Daumen abgeschnitten, wozu man viel Mut brauchte, weil der Richtplatz vor der Stadtmauer bei dunk ler Nacht als ein verwunschenes Territorium galt, wo einem Unheim liches widerfahren konnte«, erinnerte sich Byron. »Insbesondere sol chen ›Diebesdaumen‹ wurde in Zeiten finsteren Aberglaubens eine magische Wirkkraft zugesprochen. Ein solches Knöchelchen, aufbe wahrt im Geldbeutel oder unter der Hausschwelle vergraben, sollte Segen und immerwährenden Reichtum bringen.«
Horatio schüttelte sich. »Ich glaube nicht, dass der Absender derlei Glückwünsche im Sinn gehabt hat!«
»Nein, das hat er wohl kaum«, pflichtete Byron ihm bei, warf den blutigen Stoffstreifen schnell zu dem abgetrennten Finger, schloss die Schachtel mit dem Deckel und stellte sie unter seinen Sessel, um sie nicht ständig im Blick zu haben.
»Vergessen wir den Daumen!«, sagte Alistair. »Wichtiger ist wohl herauszufinden, wer hinter dieser rätselhaften Aktion steckt und was diese Abkürzung und das seltsame Datum bedeuten.«
»Der Ordo Novi Templi ist offenbar ein Geheimbund, der ganz wild darauf ist, sich in den Besitz des Judas-Evangeliums zu bringen«, sag te Harriet.
Byron nickte und verzog dabei das Gesicht. »Ja, aber aus welchem Grund? Und an Geheimbünden mangelt es in der Welt wahrlich nicht. Ich könnte euch aus dem Stegreif ein ganzes Dutzend dieser geheimen Gesellschaften aufzählen, etwa die berüchtigten chinesi schen Triaden, die russischen Tschornye Sotni und Narodniki, die si zilanischen Beati Paoli und Decisi, die Rosenkreuzer, die Illumina ten, die Freimaurer – und diese Ehrenwerte Gesellschaft der Wächter, von der ich bislang jedoch noch nie gehört habe. Und dass diese mysteriösen Wächter es gewesen sind, die uns das Notizbuch und den Daumen geschickt haben, steht wohl außer Frage.«
Horatio nickte. »Natürlich! Die Abkürzung D.E.G.d.W. steht für Die Ehrenwerte Gesellschaft der Wächter!«
»Und dann steht das merkwürdige Datum i.J.d.W. natürlich für den 7. November 364 im Jahr der Wache!«, kombinierte Harriet. »Was ja wohl bedeutet, dass dieser Geheimbund seit 364 Jahren existiert und in all diesen Jahren irgendetwas bewacht.«
»Ja, aber was?«, sinnierte Horatio.
»Dieses sogenannte Evangelium des Judas kann es jedenfalls nicht sein«, sagte Byron. »Denn sonst hätten sie uns nicht den Mann mit der Schirmmütze vom Hals geschafft und uns vor diesem Ordo Novi Templi gewarnt.
Weitere Kostenlose Bücher