Die Judas-Papiere
Telegramm aus seinem Stoß Papiere gezogen.
Wäre Harriet nicht gewesen, hätte er leichtes Spiel gehabt. Denn niemand stand in seiner Nähe, um noch rechtzeitig eingreifen zu können.
Harriets Blick hatte den Mann flüchtig gestreift, als dieser hinter dem servierenden Kellner hatte warten müssen. Ihr war dabei un willkürlich durch den Kopf geschossen, wie verwunderlich es war, dass dieser Kellner eine Jacke trug, die ihm deutlich zu groß war. Das passte nicht zu dem hohen Standard, der diesen Luxuszug doch ei gentlich bis ins kleinste Detail prägte. Diese Beobachtung hatte das ungute Gefühl in ihr geweckt, dass mit diesem Mann irgendetwas nicht stimmen konnte. Alarmiert hatte sie jedoch erst das kurze me tallische Schnappen, das unter seiner Jacke hervorgedrungen war, kannte sie sich doch mit Messern aller Art nur zu gut aus. Doch in dem Moment hatte der Mann schon ihren Tisch passiert.
Mit einer winzigen Verzögerung sprang sie wie von der Feder ge schossen von ihrem Sitz auf, warf sich nach rechts in den Gang he rum und bekam gerade noch rechtzeitig die Jacke des Angreifers zu fassen, als dieser seinen gellenden Schrei ausstieß, auf den Waffen händler zustürzte und diesem sein Stilett in die Brust stoßen wollte.
Mit aller Kraft zerrte sie halb im Taumeln an der Kellnerjacke und riss den Mann damit von den Beinen. Die Klinge stach eine halbe Armlänge an Basil Sahars linker Schulter vorbei ins Leere. Im Sturz fegte der falsche Kellner mit seinem linken Arm das Weinglas und ei nige Papiere vom Tisch.
Bevor er sich wieder aufrappeln und einen zweiten Mordversuch unternehmen konnte, stand Harriet auch schon über ihm.
»Du wirst hier erst mal liegen bleiben, Bursche!«, rief sie, während sie ihm mit ihrem rechten Schnürstiefel das Stilett aus der Hand trat und ihm mit einem zweiten Tritt das Bewusstsein raubte.
Nach einem kurzen Moment der Stille brachen im Speisesalon wil des, vielstimmiges Geschrei und Chaos aus. Die Männer sprangen von ihren Sitzen auf, wobei so manches Glas und Porzellan zu Bruch gingen und nicht wenige damastene Tischtücher sowie Abendgarderoben mit Wein getränkt wurden. Alles redete und fuchtelte aufgeregt durcheinander. Jeder stand dem anderen im Weg, egal, wohin es ihn auch drängte. Einige besonders Furchtsame ergriffen mit dem entsetzten Ruf »Attentat! Da ist ein Attentat versucht worden!« die Flucht aus dem Speisewagen. Andere drängten sich neugierig in den Durchgang und wollten dorthin, wo beinahe ein heimtückischer Mord geschehen war. Zwei besonders zart besaitete Frauen fielen vor Schreck in Ohnmacht und bedurften einer scharfen Prise Riechsalz, um wieder zu sich zu kommen.
Basil Sahar war wohl der Einzige, der in dem Tumult noch an sei nem Tisch saß, wenn auch mit sichtlicher Blässe im Gesicht. Seine Verblüffung galt jedoch nicht der Tatsache, dass er nur knapp dem Tod entkommen war, sondern dass es eine Frau gewesen war, die den Mordanschlag vereitelt hatte.
Byron und Alistair waren im nächsten Moment an Harriets Seite und vergewisserten sich, dass der Mann am Boden keine Gefahr mehr darstellte.
»Mein Gott, das war knapp!«, stieß Alistair hervor.
Harriet zuckte die Achseln. »Knapp vorbei ist gottlob auch vorbei«, erwiderte sie und ordnete ihre Ponyfrisur.
Bewundernd sah Byron sie an. »Alle Achtung, das war eine Glanzleistung an Schnelligkeit und Geistesgegenwart! Wie haben Sie . . .« Schnell verbesserte er sich und fuhr in seiner Rolle als angeb licher großer Bruder fort: »Wie hast du nur mitbekommen, was der Kerl vorhatte?«
»Das Geräusch der herausspringenden Stilettklinge hat mich alar miert!«
Von weiter hinten kam die Stimme eines französisch sprechenden Mannes. »Lassen Sie mich durch, Messieurs! Ich habe von Berufs we gen mit den dunklen Abgründen des Verbrechens zu tun. Ich bin si cher, jetzt dort vorne von Nutzen sein zu können. Also bitte, haben Sie die Freundlichkeit, mir den Gang frei zu machen!«
Ganz langsam erhob sich Basil Sahar nun von seinem gepolsterten Stuhl, ergriff Harriets rechte Hand und führte sie zu einem formvoll endeten Handkuss an seine Lippen.
»Was kann es für ein schöneres Geschenk geben, als von einer zau berhaften jungen Frau vor einem gewaltsamen Tod bewahrt zu wer den«, sagte er mit dunkler, wohlklingender Stimme. Sein Englisch war makellos, wenn auch mit leichtem orientalischem Akzent. »Sie sehen mich in jeder Hinsicht überwältigt, verehrte Lebensretterin. Nun stehe ich auf ewig in Ihrer
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