Die Judas-Papiere
aussah.
»Werde mir bei Gelegenheit von dir Nachhilfeunterricht erteilen lassen, Verehrteste«, erwiderte Alistair, nahm einen kräftigen Schluck, um dann mit gedämpfter Stimme fortzufahren: »Obwohl ich mir habe sagen lassen, dass sich das Publikum im Orient-Express nicht nur aus Diplomaten, Adligen, Männern aus der Hochfinanz, Politik und Kunstwelt zusammensetzt, sondern auch aus einigen zwielichti gen Gestalten wie Spionen, Geheimkurieren und Waffenschiebern.« Dabei sah er sich im Wagen um, als wollte er feststellen, wer von ih ren Mitreisenden wohl zu welcher Gruppe der eben genannten Personen gehörte.
»Solange keiner von ihnen zum Ordo Novi Templi gehört, kümmert es mich nicht sonderlich, wer noch mit uns nach Bukarest reist«, murmelte Horatio.
»Ich denke, diese Dunkelmänner haben wir in Wien abgehängt«, sagte Harriet zuversichtlich. »Es war eine gute Idee, vier Schauspie ler zu engagieren, die für ein paar Tage unsere Rolle spielen. Auch wenn Sie dafür Ihren monumentalen Schrankkoffer haben opfern müssen, Byron.«
Dieser verzog stumm das Gesicht, hatte er sich doch nur sehr wi derstrebend davon getrennt und seine Sachen in neu erstandenen Koffern untergebracht.
»Ja, es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn unsere Verfol ger trotz unseres Ablenkungsmanövers mitbekommen haben, dass wir Tickets für den Orient-Express gekauft haben und auf dem Weg nach Bukarest sind«, pflichtete Horatio ihr bei.
»Das hoffe ich auch«, sagte Byron und griff zur gefalteten Menükar te, die auf Französisch verfasst und auf schweres Büttenpapier ge druckt war.
Die ersten Speisen wurden bald aufgetragen und ihr Gespräch dreh te sich wieder um Mortimers Notizbuch sowie ihre nächste Station, die sie hoch in die Berge der Karpaten führen würde. Sie beredeten, wie sie vorgehen und welchen plausiblen Grund sie anführen wollten, um sich Zugang zu der Burg von Graf Kovat zu verschaffen und dort heimlich nach dem »toten Templer« zu suchen, in dessen »Nacken« sich der nächste Hinweis auf das Versteck der Papyri befinden sollte – was auch immer Mortimer damit gemeint haben mochte.
Das feudale Dinner, bei dem zu jedem Gericht ein anderer Wein gereicht wurde, nahm seinen Lauf. Sanft wiegte sich der Zug über die Schienen und das gedämpfte rhythmische Rattern der Räder war wie ein dezenter gleichbleibender Grundton, auf dem die halblauten Gespräche der Passagiere, die verhaltenen Stimmen der Kellner sowie das gelegentliche helle Klingen von Kristallgläsern, Porzellan und Bestecken die eigentliche Melodie bildeten. Eine Melodie, die dann und wann einen besonderen Akzent bekam, wenn sich eine der Passagier-stimmen etwas vernehmbarer als die anderen aus der harmonischen Sinfonie der leisen Unterhaltungen und Geräusche heraushob.
»Ich erinnere mich noch gut an die erste Fahrt, die nach Konstanti nopel ging«, sagte ein groß gewachsener befrackter Mann an einem der sieben Zweiertische, der dem Tisch der vier Gefährten direkt ge genüberlag. »Das war im Oktober 1883. Da trugen die Kellner hier im Speisewagen noch kurze Spencer, dunkelrote Samtkniehosen, wei ße Strümpfe, silberne Schnallenschuhe und vor allem gepuderte Pe rücken. Na, die Perücken haben sie nach dieser ersten Fahrt sofort wieder abgeschafft, weil beim Servieren allzu oft Puder in die Suppe der Gäste gerieselt ist, und das kam gar nicht gut an, das können Sie mir glauben!«
Sein Gegenüber, ein schmächtiger Mann mit einem goldgefassten Monokel, lachte kurz auf. »Nun ja, ein wenig Puder ist wohl das Ge ringste, was man auf seiner Fahrt in den Orient zu fürchten hat, Herr Baron. Ich habe mir sagen lassen, dass es auf einer Reise in den Bal kan ratsam ist, sich zu bewaffnen, weil man stets mit Überfällen auf den Zug rechnen muss. Deshalb habe ich mir auch einen Revolver zu gelegt und ein paar Stunden auf dem Schießstand zugebracht.«
Der Baron nickte. »Eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme, Herr von Zittwitz, auch wenn derartige Zwischenfälle eher die Ausnahme sind. Andererseits, der Überfall im Mai 1891 auf den Zug ist mir noch in lebhafter Erinnerung.«
Seinem Tischgenossen fiel vor Schreck fast das Monokel in die Suppe. »Allmächtiger, Sie haben selbst schon einen Überfall von Banditen erlebt?«
Der Baron nickte. »In der Tat. Es geschah etwa hundert Kilometer vor Konstantinopel. Eine mit Pistolen und Messern bewaffnete Bande, die von einem Mann namens Anasthatos angeführt wurde, hatte den Zug durch eine
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