Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
ausstrecken und es berühren. Gegenwart und Vergangenheit konnten tatsächlich nebeneinander existieren! Ihre Gegenwart, seine Vergangenheit. Was bedeutete dieses Bild? Das Wasser stand für Weisheit. Rebecca besaß spirituelle Einsicht und hatte sie Eliezer übermittelt. Aber was war das? Rienzi bemerkte ein seltsames Tier. Es hockte auf dem Rand des Brunnens und sah aus wie ein Wesen aus der heidnischen Mythologie – wie eine Sphinx. In den Klauen hielt es einen Krug. Als das Wesen den Neuankömmling wahrnahm, streckte es den Arm aus und bot ihm Wasser an. Rienzi schauderte. Hier gab es Gut und Böse, da war er sicher – verschiedene Quellen der spirituellen Weisheit. Die Vision zerbrach.
»Was haben Sie auf der Treppe gesehen?«, fragte er seine Gefährten.
»Nichts.«
»Nein, sagen Sie es mir genau! Nicht, was Sie mit den Augen gesehen haben, sondern was in Ihrer inneren Wahrnehmung erschienen ist. Hatten Sie eine Vision?«
»Es war seltsam«, sagte der eine Kardinal. »Ich glaubte, in einen Traum einzutreten. Ich stieg einen Hügel hinauf. Da waren Schlangen.«
»Haben Sie Rebstöcke und Gräber gesehen?«
»Nein. Aber ich konnte Wildblumen riechen. Ich wollte die Hand ausstrecken und sie berühren.«
»Und Sie?«, fragte Rienzi den anderen Kardinal. »Was haben Sie gesehen?«
»Ich habe einen Mann gesehen, der die Rebstöcke schnitt. Er trug eine römische Toga. Und ich habe Gräber gesehen. Sie befanden sich am Fuß des Hügels.«
»Sonst noch etwas?«
»Ja. Die Stadt Rom. Aber … sie war so anders. Klein, wie in der Antike.«
»Das habe ich auch gesehen«, rief Rienzi aufgeregt. Er leuchtete mit der Taschenlampe zum Bild hinauf, das sich vor ihnen befand. »Und das hier? Haben Sie da irgendetwas gesehen? Hatten Sie das Gefühl, dort zu sein? Bei den Menschen, die neben dem Brunnen stehen?«
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja«, erwiderten beide Kardinäle nachdrücklich. »Warum geschieht dies?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Rienzi vorsichtig, »aber es ist, als wäre man in einer anderen Dimension gefangen. Dieser Turm hat etwas Geheimnisvolles. Wir sollten weitergehen.«
Sie stiegen die Treppe zum zweiten Stockwerk hinauf. Mit jedem Schritt wurde Rienzis mystische Einsicht intensiver. Er erklomm mit seinen beiden Gefährten einen Hügel. Bei dieser Anhöhe, da war er sicher, handelt es sich um den Vatikans-Hügel. Lange bevor man den Petersdom dort erbaute, war der Hügel als Weinberg kultiviert worden. Er war voller Schlangen – ein Ort, an dem sich Gut und Böse mischten. Am Fuß des Hügels befand sich ein römischer Friedhof. Rienzi blickte von seinem Beobachtungsposten auf halber Höhe des Hügels auf die Stadt Rom, so wie sie vor zweitausend Jahren existiert hatte. Die Vision war derart deutlich, dass sie ihn in Entzücken versetzte. Er kam sich vor wie ein Tourist, der ein fernes Land bereist, aber nicht fern hinsichtlich des Ortes, sondern der Zeit. Er atmete die frische Luft ein, eine berauschende Mischung aus dem Geruch von feuchter Erde, reifenden Trauben und Wildblumen. Rienzi kniete nieder und sah alle möglichen Arten von Schmetterlingen, Bienen und kleinen Insekten. Er streckte die Hand aus, um eine Weinrebe zu ergreifen. Er erlebte ein menschliches Gefühl, eine Berührung, aber keine physische Wirklichkeit. Also hatte er die Vergangenheit betreten – aber nicht mit seinem menschlichen Leib. Vielmehr blickte er in die Vergangenheit durch ein spirituelles Auge – dessen Sicht nicht von der Zeit behindert wurde.
Jetzt verstand er. Der Papst hatte den Turm der Winde vor neun Jahren besucht, weil dieser ihm ermöglichte, auf mystische Weise die Vergangenheit zu betreten. Warum? Weil er nach der letzten Münze des Judas suchte. Und die Judas-Silberlinge waren mit dem ersten Apostel verknüpft – mit dem heiligen Petrus und der spirituellen Macht, mit der dieser ausgestattet war. Rienzi schaute in die Richtung der Gräber unten am Hügel. Dort lag der erste Apostel beerdigt. Aber noch während Rienzi seine Vision genoss, verspürte er eine innere Unruhe – das Gefühl, eine Welt betreten zu haben, die von anderen Gesetzen regiert wurde als jenen, die in der menschlichen Welt galten. Und der Präfekt Pater Gabriele war erst kürzlich im Turm der Winde tot aufgefunden worden. Vielleicht sollten sie umkehren. Ja, das wäre das Beste. Rienzi war vorsichtig und sich der Fähigkeit Satans, Leib und Seele der Menschen zu manipulieren, nur allzu bewusst. Er drehte
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