Die Judas-Verschwörung: Mysterythriller (German Edition)
sie auszeichnete, war das Seminargebäude, in dem die Priesterzöglinge untergebracht wurden, die eine einjährige Ausbildung absolvierten. Hinzu kamen im Inneren der Kirche einige großformatige Gemälde eines italienischen Malers des 19. Jahrhunderts.
Bis auf Gruppen japanischer Touristen hatte kein ausländischer Urlauber jemals diese kleinere Markus-Kirche besucht – was einen bizarren Grund hatte. Denn einige Jahre zuvor hatte sich in ihren Reiseführern ein Irrtum eingeschlichen, begangen von einem japanischen Kunstkritiker, wonach es sich bei dieser Kirche um die älteste in Alexandria handle und die Gemälde besonders sehenswert seien. Tatsächlich meinte der Kritiker die Kathedrale, nicht die Kirche. Doch dieser Irrtum sowie der Umstand, dass sich die Kirche
en route
zu einem Archäologie-Museum befand, führten dazu, dass japanische Touristenführer oft einen zehnminütigen Zwischenstopp hier einlegten.
Natürlich hatten die beiden Priester des Gotteshauses, Pater Hassan und Pater Jussef, zunächst versucht, den japanischen Touristen zu erklären, dass sie ihre unbedeutende Kirche aufgrund eines eklatanten Fehlers besuchten, sie hatten dies aber längst wieder aufgegeben. So war die Kirche praktisch jeden Tag leer – bis auf einen zweistündigen Zeitraum gegen Mittag, wenn zahlreiche Minibusse herangefahren kamen. Anschließend wurde es wieder mucksmäuschenstill in der Kirche, bis zur Messe um 19 Uhr, zu der die übliche Gruppe von rund vierzig überwiegend alten Gemeindemitgliedern kam. Diese blieben dann oft noch etwas länger, um nach dem Gottesdienst mit den Priestern zu plaudern. Schließlich hatte man ja nichts anderes zu tun.
»Josua! Josua! Wo steckt er denn?«
Pater Jussef drängte sich an einer Gruppe Japaner vorbei, die sich am Eingang der Kirche aufgestellt hatte, um ein Weitwinkelfoto schießen zu können. Er hatte soeben in einer nahe gelegenen Kirche die Messe gelesen, weil der Priester dort erkrankt war. Die japanischen Touristen musterten den schlaksigen Mann in seinem fließenden koptischen Messgewand. Als sie seine Kleidung sahen, glaubten sie, er habe sich extra für sie herausgeputzt. Daher das Klicken der Kameras. Der Priester blickte sie grimmig an. Was wussten diese Touristen schon vom Glauben? Die interessierten sich doch nur für ein paar farbenfrohe Fotos, die sie im Freundeskreis daheim zeigen konnten. Schlimmer noch: Sie legten nie Geld in die Kollekte. Glaubten die denn, eine Kirche lasse sich allein mit dem Glauben instand halten?
»Wo steckt denn Josua?«
Die Putzfrau blickte von ihrer Arbeit auf, sie wischte den Mosaikboden im Mittelgang. »Keine Ahnung.«
»Ist denn Pater Hassan da?«
»Er ist in der Sakristei.«
Jussef begab sich dorthin, verfolgt von einem wahren Blitzlichtgewitter. Er stöhnte laut auf, was alles nur noch schlimmer machte, aber die Ausländer liebten ja theatralische Effekte. War es dem Erlöser ebenso ergangen, als er das Kreuz trug? Passanten, die sich vordrängelten, Väter, die ihre Kinder in die Höhe hoben, damit sie den Verbrecher sehen konnten, Frauen, die miteinander plauderten, während sie ihn dahinwanken sahen? »Ach, keine Sorge, er wird da schon wieder rauskommen. Er wird bestimmt ein Wunder vollbringen. Ich habe ihn in Kapernaum gesehen und …«
Der Priester ging links am Altar vorbei und dann einen schmalen Flur entlang, der mit schwarzen Lettern (in mehreren Sprachen) als »Privat« gekennzeichnet war. Er führte den Gedanken fort: Was war geschehen, als Christus kein Wunder vollbracht hatte? Wann hatten die Schaulustigen erkannt, dass etwas furchtbar schiefgegangen war und sich der Mann am Kreuz in Todeskrämpfen wand? »Was für eine Schande!«, dürften einige gemurmelt haben. Andere hatten sicherlich selbstgefällig ausgerufen: »Ich habe es euch doch gesagt, er ist ein falscher Prophet … Ich erkenne solche Leute sofort.« Natürlich hatten sie das nicht herausgeschrien – aber vermutlich so laut und vernehmlich gesagt, dass die in der Nähe stehende Mutter des Verurteilten es hören konnte. Was war ihr dabei wohl durch den Kopf …
»Pater Hassan! Hast du Josua gesehen?«
Der betagte Priester – ein hagerer Mensch mit Triefaugen – schloss einen Schrank und drehte sich um.
»Nein.«
Während Jussef das Messgewand ablegte und seine braune Kutte überstreifte, standen die beiden Männer nahe, fast verschwörerisch nebeneinander. Jussef war Ende sechzig, Hassan Ende siebzig. Sie waren die einzigen
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