Die Juedin von Toledo
unwissendes Mädchen, sie verstand nichts und konnte ihr nicht helfen, aber sie war ihre Freundin. Hier war keine Freundin, hier waren lauter Fremde und lauter Fremdes. Hier war keine Azhar-Moschee; der Ruf des Muezzins von der Azhar-Moschee, der zur Waschung und zum Gebet mahnte, war gellend wie der jedes andern, aber sie kannte ihn heraus. Und hier war kein Chatib, ihr eine schwierige Stelle des Korans zu erklären. Hier waren nur wenige, mit denen sie in ihrem lieben, vertrauten Arabisch schwatzen konnte; sie wird eine harte, komische Sprache brauchen müssen, und um sie werden Menschen sein mit groben Stimmen und Gebärden und mit rauhen Gedanken, Kastilier, Christen, Barbaren.
Sie war glücklich gewesen in dem hellen, wunderbaren Sevilla. Ihr Vater hatte dort zu den Ersten gehört, und schon weil sie dieses Vaters Tochter war, hatten alle sie liebgehabt. Wie wird es hier sein? Werden diese Christen verstehen, was für ein großer Mann ihr Vater ist? Und werden sie Sinn haben für ihr, Raquels, Wesen und ihre Art? Wird nicht sie ihnen genauso fremd und komisch vorkommen wie die Christen ihr?
Und dann war da das andere, noch größere Neue; jetzt war sie vor aller Welt eine Jüdin.
Sie war im Glauben der Moslems aufgewachsen. Aber noch als sie ganz klein war – es war gleich nach dem Tod der Mutter, fünf Jahre mochte sie gewesen sein –, hatte der Vater sie beiseite genommen und ihr flüsternd, bedeutsam gesagt, sie gehöre zur Familie der Ibn Esras, und das sei ein Einmaliges, sehr Großes, aber auch ein Heimliches, von dem man nicht reden dürfe. Später dann, als sie größer war, hatte er ihr eröffnet, daß er Moslem sei, aber auch Jude, und er hatte ihrerzählt von jüdischen Lehren und Sitten. Doch hatte er ihr nicht befohlen, diese Bräuche zu üben. Und als sie ihn einmal geradezu fragte, was sie glauben und was sie tun solle, hatte er freundlich erwidert, da sei kein Zwang; wenn sie erst erwachsen sei, dann möge sie selber entscheiden, ob sie die hohe, doch nicht ungefährliche Verpflichtung heimlichen Judentums auf sich nehmen wolle.
Daß der Vater ihr die Entscheidung auflegte, hatte sie mit Stolz erfüllt.
Einmal hatte sie sich nicht länger zähmen können und gegen ihren Willen ihrer Freundin Layla anvertraut, daß sie eigentlich eine Ibn Esra sei. Layla aber hatte seltsamerweise geantwortet: »Ich wußte es«, und nach einem kleinen Schweigen hatte sie hinzugefügt: »Du Arme.«
Raquel hatte nie mehr mit Layla über ihr Geheimnis gesprochen. Aber als sie das letztemal zusammen waren, hatte Layla haltlos geweint und gesagt: »Ich habe immer geahnt, daß es so kommen wird.«
Es war jenes dreiste, törichte Mitleid Laylas gewesen, das damals Raquel antrieb, genauer zu erkunden, was denn diese Juden waren, zu denen sie und der Vater gehörten. Die Moslems nannten sie »das Volk des Buches«; also mußte sie zuerst einmal dieses Buch lesen.
Sie bat Musa Ibn Da’ud, Onkel Musa, der im Hause des Vaters lebte und der sehr gelehrt war und viele Sprachen kannte, sie im Hebräischen zu unterweisen. Sie lernte leicht und konnte bald in dem Großen Buch lesen.
Sie hatte sich von ihren frühesten Jahren an zu Onkel Musa hingezogen gefühlt, doch erst in den Stunden des Unterrichts lernte sie ihn recht kennen. Dieser nächste Freund ihres Vaters war ein langer, dünner Herr, älter als der Vater; manchmal schien er uralt, dann wieder auffallend jung. Aus seinem hagern Gesicht ragte eine fleischige, stark gekrümmte Nase, über ihr leuchteten große, schöne Augen, die einen durch und durch schauen konnten. Er hatte viel erlebt; der Vater sagte, er habe sein ungeheures Wissen und die Freiheitseines Geistes mit vielen Leiden bezahlen müssen. Doch sprach er nicht davon. Wohl aber erzählte er manchmal dem Kinde Raquel von fernen Ländern und seltsamen Menschen, und das war noch aufregender als all die Märchen und Geschichten, die Raquel gerne hörte und las; denn da vor ihr saß dieser ihr Freund und Onkel Musa und war mitten drin gewesen.
Musa war Moslem und hielt alle Bräuche. Aber er schien lax im Glauben und verbarg nicht milde Zweifel an allem, was nicht Wissen war. Einmal, als er mit ihr im Propheten Jesaja las, sagte er: »Das war ein großer Dichter, vielleicht ein größerer als der Prophet Mohammed und der Prophet der Christen.«
Das war verwirrend. Durfte sie, die sich zum Propheten bekannte, überhaupt in dem Großen Buch der Juden lesen? Wie alle Moslems betete sie täglich die
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