Die Juedin von Toledo
gewesen. Trotzdem spürten sie nichts von Ermüdung und Einförmigkeit, die Tage waren zu kurz, und die Nächte waren zu kurz, und immer Neues war zu sagen, und immer neue Unterhaltungen boten sich an.
Raquel saß am Springbrunnen des Patio, die Märchenerzählerin, und das Wasser des Springbrunns hob sich und fiel, und sie erzählte, zwanzig Geschichten, hundert Geschichten, sie gingen ineinander über wie die Inschriften an den Wänden. Sie erzählte ihm die Geschichte von dem Schlangenbeschwörer und seiner Frau und die von dem Freigebigen Hund und die vom Tode des Liebenden aus dem Stamme Usra und die von dem Betrübten Schulmeister. Und sie erzählte die Geschichte von Einzahn und Zweizahn und die von dem Vornehmen Herrn, der schwanger wurde. Und sie erzählte das Märchen vom Ei des Vogels Rock und das Märchen von der Orange, die sich auftat, als der Dichter sie essen wollte, und er schritt in die Orange hinein, und sie war eine große Stadt, und es begegneten ihm die wunderbarsten Abenteuer.
Sie saß auf dem Rande des Springbrunns, den Kopf in die Hand gestützt, und erzählte, und oft schloß sie die Augen, um deutlicher zu sehen, was sie erzählte. Sie erzählte auf die gegenständliche arabische Art, etwa: »Am andern Morgen – gutenMorgen, lieber Hörer und König – ging aber unsere Witwe zu dem Kaufmann …«, oder sie unterbrach sich und fragte: »Und nun, lieber Hörer und König, was hättest du an Stelle des Arztes getan?«
Er hörte zu, und hörend, von was für wunderlichen Dingen die Welt voll war, erfaßte er plötzlich, wie wunderlich seine eigene Geschichte war, die er bisher als etwas Selbstverständliches hingenommen hatte. Denn nicht weniger bunt als ihre Märchen war, was er selber erlebt hatte: wie er als Dreijähriger König wurde, und wie sich die Granden um seine Vormundschaft stritten und ihn herumschleppten von Feldlager zu Feldlager und von Stadt zu Stadt, bis er, ein Vierzehnjähriger, mit einer Stimme, die noch in die Höhe rutschte, in Toledo vom Turm der Kirche San Roman herunter die Bürger aufrief, für ihren König einzustehen und ihn aus der Hand seiner Barone zu retten. Und wie er, immer noch sehr jung, die englische Prinzessin freite, die selbst noch ein Kind war, und wie sie Umwege machen mußte, weil man mit León im Kriege lag, bis endlich die Hochzeit ausgerichtet werden konnte. Und wie er sein ganzes junges Leben hindurch weiter Krieg führte und sich herumschlug, mit den Ungläubigen, mit den rebellischen Granden, mit dem König von Aragon, dem von León, dem von Navarra, dem von Portugal und auch, in aller Frömmigkeit, mit dem Heiligen Vater. Und wie er Kirchen baute und Klöster und Festungen und zuletzt dieses Lustschloß La Galiana. Und wie er jetzt hier saß und den Sinn seines Lebens gefunden hatte: diese Frau und diese Märchen, von denen sein eigenes Leben eines war.
Sie erfand neue Spiele. Zeigte sich ihm in der Knabentracht, die sie auf Reisen zu tragen pflegte. Auch den Degen hatte sie umgegürtet; so stolzierte sie herum, zärtlich, hübsch und ungeschickt. Sie schenkte ihm einen reichbestickten Schlafrock aus schwerer Seide, dazu perlbestickte Pantoffeln. Er tat den Schlafrock aber nur widerstrebend um, und als sie wollte, daß er sich mit gekreuzten Beinen auf die Erde hocke, weigerte er sich unwirsch.
Die Kränkung gutzumachen, daß er ihr Geschenk nicht achtete, zeigte er sich ihr in der Rüstung. Es war aber nur die leichte, silberne Rüstung, die er bei Festlichkeiten trug. Sie war ehrlich entzückt, wie schlank, kühn und elegant er aussah, und sie erzählte ihm, wie sie um ihn gezittert hatte damals, als er den Stier bekämpfte. Aber als sie ihn bat, er möge sich ihr in der richtigen Rüstung zeigen, in der, welche er in der Schlacht trage, wich er aus, und auch als sie ihn nach seinem berühmten Schwert Fulmen Dei, Gottes Blitz, fragte, gab er nur vage Antwort.
Sie rühmte ihn vor der Amme Sa’ad. Da diese mürrisch schwieg, sagte sie ihr auf den Kopf zu: »Du magst ihn nicht, du kannst ihn nicht leiden.« – »Wie sollte ich etwas nicht leiden können, was meinem Lämmchen gefällt!« widersprach Sa’ad. Aber dann gab sie zu: »Mich verdrießt, daß er dich nicht zu seiner Sultanin macht. Noch für seine Sultanin wärest du zu gut.« Die Amme blieb besorgt und unglücklich, und eines Tages holte sie aus ihrem mächtigen Busen das Beste, was sie hatte, ein silbernes Amulett mit fünf Strahlen gleich den Fingern einer Hand. Es war
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