Die Juedin von Toledo
fiel ihr aufs Herz, daß sie dem Vater versprochen hatte, jeweils am Vorabend des Sabbats zu ihm zu kommen, um den ganzen heiligen Tag mit ihm zu verbringen. Er hatte es nicht von ihr verlangt, sie hatte es ihm angeboten, und nun hatte sie es all die Zeit her vergessen! Bestürzt erkannte sie, wie weit der Vater aus ihrem Leben zurückgewichen war.
Diesen Freitag wird sie zu ihm gehen. Nein, da kam Alfonsozurück. Aber den Freitag darauf wird sie zu ihm gehen, und nichts soll sie halten.
In Toledo hatte keiner der Räte ein Wort des Vorwurfs oder auch nur der Verwunderung für Alfonso, doch spürte er ihre Mißbilligung. Er kümmerte sich nicht darum. Eines einzigen Mannes Anblick wäre ihm peinlich gewesen, Jehudas. Aber der kam nicht.
Geschäfte füllten Alfonsos Tag, Empfänge, Beratungen, das Studium von Urkunden. Er sprach, debattierte, wog Gründe und Gegengründe, entschied, unterschrieb. Er mühte sich, Menschen und Dinge in der notwendigen harten Helle zu sehen, aber immer von neuem nebelte Verzauberung ein, die Verzauberung der Galiana, und während er redete und arbeitete und unterzeichnete, dachte er: Was tut sie jetzt? Und ist sie auf dem Mirador oder im Patio? Und trägt sie wohl das grüne Kleid?
Des Nachts brannte er vor Begier. Er wollte an den Aufriß der Festung Calatrava denken und an seinen Hader mit dem Bischof von Cuenca. Statt dessen kamen ihm arabische Verse in den Sinn, die Raquel ihm vorgesprochen hatte, und er versuchte, das ganze Gedicht zu konstruieren, aber trotz seines guten Gedächtnisses konnte er nicht alle Reime zusammenfinden, und das ärgerte ihn. Er sah deutlich Raquels Lippen, aus denen die Verse kamen, und er verstand sie nicht, und sie suchte ihm zu helfen, und sie tat die Arme auf und erwartete ihn. Und neue Hitze überrieselte ihn, und seine Pulse klopften, und er konnte nicht länger liegen.
Endlich war die Ewigkeit dieser drei Tage vorbei, und er war wieder in der Galiana, und der gleiche, grenzenlose, brustsprengende, zum Himmel reißende Jubel füllte sie beide.
Sie gab ihm, was immer er begehrte, doch genügte es nicht. Keine Berührung genügte, kein Kuß, keine Umarmung, keine Vermischung. Er begehrte sie tiefer und war rasend, daß es keine Sättigung gab für seine Begierde.
Er war eins mit ihr, mehr eins als mit sich selber. Ihr konnteer Dinge sagen, die er noch keinem gesagt hatte, auch sich selber nicht, stolze, kindische, königliche, alberne Dinge; und wenn er glaubte, er habe ihr sein Geheimstes enthüllt, dann ließ ihn ihre Nähe ein noch Geheimeres entdecken, das dahinter war. Es war ihm lieb, wenn Raquel antwortete; denn fast immer antwortete sie ein Unerwartetes, das er trotzdem sogleich verstand. Aber auch wenn sie schwieg, war es ihm lieb; denn wer sonst konnte so beredt schweigen, zustimmen, ablehnen, jubeln, klagen, tadeln?
Und wieder gab es um sie beide keine Zeit, kein Gestern und kein Morgen, nur ein erfülltes Heute.
Da aber, jäh, zerschnitt Raquel die zeitlose Seligkeit. »Heute nachmittag«, erklärte sie, »gehe ich nach Toledo zu meinem Vater.«
Er schaute sie an, verstört. War sie wahnsinnig? War er’s? Das konnte sie nicht gesagt haben. Er hatte sie mißverstanden. Er fragte, stammelte. Sie bestand: »Heute nachmittag geh ich zu meinem Vater. Sonntag morgen komme ich zurück.«
Raserei stieg in ihm hoch. »Du liebst mich nicht!« empörte er sich. »Noch kennen wir uns kaum, und schon treibt es dich fort. Das ist tödliche Kränkung. Du liebst mich nicht!«
Sie, während er ihr herbe Worte sagte, und immer herbere, dachte: Er ist furchtbar allein, der stolze König. Er hat niemand außer mir. Und ich habe ihn und den Vater.
Doch all ihr Triumph half ihr nicht weg über den geradezu leibhaften Schmerz, den sie jetzt schon spürte bei dem Gedanken, daß sie fort von ihm sein wird heute abend und heute nacht und nochmals einen ganzen, langen Tag und eine ganze, lange Nacht.
Zweites Kapitel
Don Jehuda entbehrte Raquel noch bitterer, als er erwartet hatte. Zuweilen spürte er würgende Eifersucht auf Alfonso. Dann wieder stellte er sich vor, wie ihm der Verhaßte in unberechenbarerLaune Raquel zurückschicken werde, vernichtet und vertan.
Auch Alazar schuf ihm Kummer. Die zweideutige Lage Raquels, die ruhmvolle Schmach der Schwester und des Vaters machte dem Knaben das Leben in der Burg immer schwerer. Aber er suchte nicht Rates bei dem Vater, wie der fürchtete und hoffte; vielmehr versperrte er sich, er zeigte sich immer
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