Die Juliette Society: Roman (German Edition)
ich glaube nicht, dass ich es verstehe.
»Ich versuch’s ja«, beteuere ich. »Ich würde es wirklich gern verstehen.«
Ich wünschte, er würde aufhören, so zu reden. Aber ich bin trotzdem wie gebannt von seinen Worten. Ich fühle mich wie Alice im Wunderland, die versucht, sich mit dem verrückten Hutmacher und dem Märzhasen zu unterhalten. Ich habe mich in eine vollkommen verquere Logik verstrickt, die sich mir entzieht, die aber scheinbar ganz einleuchtend wäre, wenn ich mich nur darauf einlassen würde.
»Aber du hast es doch schon verstanden«, sagt er lächelnd. »Dass Lust und Macht, Sex und Gewalt, bloß zwei Seiten einer Medaille sind. Und dein Verlangen, mehr zu wissen, es am eigenen Leib zu erfahren, hat dich hierhergebracht. Zu mir.«
Jetzt verarscht er mich. Das weiß ich, weil ich es schon mal gehört habe – von Anna.
Und jetzt dämmert mir auch endlich, wer er ist, der geheimnisvolle Fremde mit der Maske, mein Traummann. Er ist der Typ, von dem Anna mir erzählt hat, ihr Lieblingsfreund, derjenige, der sie von allen am besten versteht.
»Du kennst Anna«, sage ich.
Er antwortet nicht.
Und ich weiß jetzt, was das hier werden soll. Das hier wird die Szene aus Der letzte Tango in Paris , die, die alle kennen, und die einzige, die alle wirklich interessiert.
Die, die damit beginnt, dass Maria Schneider in Marlon Brandos Wohnung spaziert und zur Begrüßung etwas ruft. Als sie jedoch keine Antwort bekommt, glaubt sie, dass keiner zu Hause ist. Doch Brando sitzt am Boden und isst Brot und Käse. Er sagt nichts, lässt sich nichts anmerken, wartet einfach nur darauf, dass sie kommt.
Er weiß bereits, was passieren wird. Er hat bereits entschieden, worauf es hinauslaufen soll. Was er tun wird. Sie ist ahnungslos. Und zum Teil spielt sie die Ahnungslose auch nur, denn in gewisser Weise will sie auch, dass es passiert.
Auch der Maskenmann hat hier auf mich gewartet, weil er wusste, dass ich kommen würde. Und wie aufs Stichwort bin ich erschienen.
Bereit für meine Butterszene.
»Hast du Angst?«, fragt er und kommt auf mich zu.
»Nein«, sage ich, und erst da wird mir klar, dass es die Wahrheit ist.
Ich habe wirklich keine Angst. Aber selbst wenn es so wäre, würde ich ihm nicht die Genugtuung geben, es ihm zu zeigen.
Alles, woran ich denken kann, ist: Was hat er vor?
»Sollte ich denn Angst haben?«, frage ich.
Er zieht mich an sich, und ich widersetze mich nicht, denn ich begreife, dass mich das alles nur hierher geführt hat.
Ich wollte hierherkommen. Habe es geschehen lassen.
Es war unvermeidlich. Mir blieb keine Wahl.
Ich habe eine Begabung. Und die blieb nicht unerkannt.
Er stößt mich aufs Bett. Ich liege auf dem Rücken. Er weiß bereits, was er will, und er wird es sich nehmen. Ich blicke auf und sehe die Statue. Ich sehe eine Ziege und einen geilen Teufel auf ihr. Ich und er in gottloser Vereinigung. Doch er greift nicht nach meinem Bart, sondern nach meinem Hals.
Bis mir klar wird, was er da tut, haben mich seine Hände schon gepackt, und alles geht so schnell, dass es wie in Zeitlupe abläuft.
Seine Hände umklammern meine Kehle.
Ich versuche zu schreien und stoße nur tote Luft aus. Ich wehre mich, aber er weiß, dass er stärker ist als ich. Die gesamte Last seines Körpers drückt mich auf das bettförmige Podium.
Ich bin vollkommen hilflos, aber auch vollkommen da und präsent.
Es ist zu spät, um noch zu reagieren, zu spät, um zu entkommen.
Ich spüre seine kräftigen Hände immer fester um meine Luftröhre.
»Dummes Ding!« Er grinst anzüglich. »Du hättest nicht herkommen sollen.«
Er beugt sich vor, bis sein Gesicht direkt über meinem ist, und alles, was ich hinter der Ledermaske erkennen kann, ist sein stechender, irrer Blick.
Mir dämmert, was mit all diesen Mädchen geschehen ist. Mir dämmert, was Anna passiert ist. Plötzlich erscheint mir alles ganz offensichtlich. Es scheint alles so klar.
Ich hätte besser aufpassen müssen. Ich hätte auf meinen Verstand und nicht auf meinen Körper hören sollen. Ich hätte es kommen sehen müssen.
Niemand will sterben. Nicht hier, nicht so.
Ich will nicht sterben. Nicht hier, nicht wie diese Mädchen.
Aber jetzt ist es zu spät.
Er quetscht das Leben aus mir heraus. Er will sehen, wie es verlischt. Er will, dass ich fühle, was sie gefühlt haben.
Und ich raffe meine letzten Kräfte und das letzte bisschen Luft in meiner Lunge zusammen und krächze:
»Fick dich!«
Es klingt wie ein Röcheln. Er
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