Die Juliette Society: Roman (German Edition)
nicht wissen, was da steht. Nicht jetzt, noch nicht, niemals.
Kinder haben viele natürliche Begabungen, für die man sie beneiden und bewundern kann. Aber was ihnen fehlt, ist Weitsicht.
Aus irgendeinem Grunde können sie die Verbindung zwischen einem offenen Schnürsenkel und einem schmerzhaften Sturz in nächster Zukunft nicht herstellen. Und dann haben sie zwei aufgeschlagene Knie, die schlimmer brennen als alles, was sie jemals zuvor gespürt haben.
Sie können nicht voraussehen, dass der Hund, wenn sie ihm den Finger in den Hintern stecken, knurrt und vielleicht auf sie losgeht. Denn ein Hund ist wie ein Gangster im Gefängnisduschraum, mit der Seife in der einen und einer scharfen Glasscherbe in der anderen Hand. Für den Hund ist ein Finger im Arsch so gut wie eine Vergewaltigung. Auch wenn der Finger einem Fünfjährigen gehört, der bloß einen kleinen unschuldigen Spaß mit Fido machen will.
Sie ahnen auch nicht, dass es sich, wenn sie in die Hose kacken, unangenehm anfühlt und übel riecht. Ganz zu schweigen von den Scherereien, dann zu Mami rennen zu müssen und ihr schluchzend zu erzählen, was passiert ist. Obwohl es Kindern an Weitsicht fehlt, können sie trotzdem ganz schön gerissen sein. Denn wenn an einem Ende Kacke rauskommt, dann ist es Zeit, am anderen den Wasserhahn aufzudrehen. Auch wenn ihre Tränen nur dazu dienen, genug Mitleid zu erwecken, um den erniedrigenden Säuberungsvorgang erträglicher zu machen.
Wenn ich nur gewusst hätte, was ich heute weiß, als mich meine Eltern zum allerersten Mal kurz vor Weihnachten mit in das örtliche Einkaufszentrum nahmen. Ich war noch ein Kleinkind im rosa Rüschenkleidchen, und sie setzten mich, nachdem sie mich an den gruseligen, mechanischen Weihnachtselfen vorbeigeführt hatten, auf Santas speckigen, roten Schoß. Er beugte sich zu mir vor, bis sein Bart meine Schenkel berührte, und stellte mir die obligatorische Frage nach meinem Herzenswunsch. Ja, da hätte ich ihm mit aller kindlichen Unschuld und voller Staunen in die feuchten, gingetränkten Augen schauen sollen und sagen: »Gib mir Weitsicht.«
Weitsicht hätte mir jede Menge Ärger, Liebeskummer und vollgekackte Hosen erspart. Weitsicht hätte mich vor mir selbst bewahrt.
Und damals, als wir ausgestreckt auf dem Flokati im Zimmer meiner Freundin lagen und sie anfing, aus diesen vergilbten Seiten in ihrer Hand vorzulesen, mochte ich vielleicht bereits an der Schwelle zum Frausein gestanden haben, aber ich war noch immer ein Kind. Was wusste ich schon?
Also stachelte ich sie auch noch an.
Wir waren wie Adam und Eva, die drauf und dran waren, von der verbotenen Frucht zu kosten. Die Neugier gewann die Oberhand, wir konnten uns nicht zurückhalten, aßen das ganze verfluchte Ding auf einmal auf und machten uns an den wirklich versauten Stellen fast in die Hose vor Lachen.
Aber der Rest der Geschichte, das Zeug, das düster und unheimlich war, wirkte auf unseren jungen, unschuldigen und noch in Entwicklung begriffenen Geist bloß seltsam und fremd. Weil wir es nicht verstanden, weil wir noch nicht jene Erfahrungen gemacht hatten, die der Sache Sinn oder einen Kontext gegeben hätten, hatte es keine Auswirkungen auf uns. Oder zumindest dachte ich das. Aber da gibt es eine Sache, die ich mir nicht erklären kann.
Irgendwie setzte sich die Geschichte, die ich damals zum ersten Mal von meiner Freundin hörte – alles, jedes Wort und jedes Detail – tief in meinem Unterbewusstsein fest, als hätte sich dort ein Parasit häuslich eingerichtet.
Viele Jahre lang hatte ich keine Ahnung, dass er da nistete.
Ich hatte nicht bloß vergessen, diese Geschichte jemals gehört zu haben, sondern auch, wie es dazu gekommen war. Und meine Freundin von damals ist heute nichts als eine Stimme ohne Gesicht oder Namen, und flüchtige Halb erinnerungen sind der einzige Beweis, den ich noch für ihre Existenz habe.
Außer in meinen Träumen.
In meinen Träumen erinnere ich mich an alles. Ich erinnere mich genau, wie sie mir die Geschichte erzählt hat, was darin passierte und was für Gefühle sie in mir ausgelöst hat.
In meinen Träumen kann ich die Szenen vor- und zurückspulen, hier und da neue Details hinzufügen, die das Ganze noch lebhafter und glaubwürdiger erscheinen lassen und andere ausblenden. Manche Elemente behalte ich bei, weil ich sie für unerlässlich halte, für die Nähte im Gewebe, die den Erzählstoff vor dem Auseinanderfallen bewahren.
Aber in der Sekunde, in der ich erwache,
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