Die Juliette Society: Roman (German Edition)
ist alles weg. Dann habe ich jede Erinnerung daran verloren. Abgesehen von kleinen Fitzelchen hier und da, aber nie genug, um es zu einem Ganzen zusammenzusetzen, das auch im Wachzustand irgendeinen Sinn ergäbe. Doch nachts kommt alles wieder zurückgeströmt, und die Träume beginnen von Neuem.
Über die Jahre, so scheint mir, habe ich die Geschichte langsam überarbeitet und zu einem wunderschönen, komplexen Flickwerk sexueller Fantasien verfeinert, zu einem Katalog meiner feuchten Träume von der Pubertät bis ins Erwachsenenalter.
Doch irgendwann während der vergangenen Wochen ist etwas geschehen, etwas, das den Traum ans Licht gebracht hat, und alles, jedes Detail, ist wieder aufgetaucht und in mein Bewusstsein gedrungen. Nun erscheint mir die Geschichte so real wie mein eigenes Leben. Und mein Leben gleicht wie bei Séverine allmählich einem Wachtraum.
Ich kann es nicht leugnen: Was da so lange in mir gegärt hat, erschreckt mich maßlos. Aber wenigstens erklärt es vieles, was den Pfad betrifft, den ich eingeschlagen habe, und die Dinge, die ich gesehen habe, und die Orte, an denen ich gewesen bin. Es erklärt, warum ich mich zu Anna hingezogen fühle.
In dem Traum bin ich ein bisschen älter als jetzt. Ich lebe allein in einer großen Stadt. Jack ist nicht da. Er ist nicht Teil des Traums und war es nie. Ich habe seit Jahren keinen Partner und ich hasse es, nach der Arbeit in meine leere Wohnung zurückzukehren. Also gehe ich jeden Tag zur selben Zeit spazieren. Immer dann, wenn die Abenddämmerung gerade hereinbricht. Meistens bleibe ich in der unmittelbaren Nachbarschaft und schlendere bloß so um den Block. Doch an manchen Tagen nehme ich mir ein Taxi zum nächsten Park und folge ziellos seinen verschlungenen Wegen, die von stattlichen Ulmen, Eichen und Zypressen gesäumt sind, vorbei an einem Hügel mit einem Orchesterpavillion, der aussieht wie ein griechischer Tempel.
Auf diesen Spaziergängen bade ich in der Schönheit der Stadt, und sie lenkt mich ab, erlaubt mir, meinen Gedanken zu entfliehen.
An besonders klaren Abenden, wenn die ganze Stadt von einem dämmrig-goldenen Schimmer erleuchtet ist, überkommt mich ein unglaubliches Gefühl des Wohlbefindens, das mich auch noch erfüllt, wenn ich nach Hause komme, und das mich die langen Nächte so viel leichter überstehen lässt.
Aber in Wahrheit fühle ich mich schrecklich unglücklich und zutiefst unerfüllt. Eine ungezügelte Leidenschaft brennt tief in mir, und ich sehne mich nach dem Tag, an dem ich jemanden finde, der nicht bloß das Leben mit mir teilt, sondern auch das brennende Bedürfnis stillt, mein aufgestautes sexuelles Verlangen zu befriedigen, das immer rasender und extremer zu werden scheint, je länger die sexlosen, liebeslosen Jahre andauern.
Allerdings gibt es da jemanden – einen Nachbarn, der in der Wohnung gegenüber wohnt –, aber wir haben noch nie miteinander gesprochen. Wenn er im Hausflur an mir vorbeigeht, versuche ich, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, doch er starrt auf den Boden, um mich nicht ansehen zu müssen. Aber ich weiß, dass er mich nachts beobachtet. Ich kann seine Augen auf meinem Körper spüren. Ich kann sein Sehnen und sein Verlangen fühlen und wie sehr er mich will. Also spaziere ich vor dem Schlafengehen bei Licht nackt vor den geöffneten Lamellen meiner Jalousie herum, damit er mich gut sehen kann. Und wenn ich im Bett bin, masturbiere ich bei der Vorstellung, wie er sich in seiner Wohnung ans Fenster drückt und sich den Schwanz streichelt und mich beobachtet. Ich kann die Leidenschaft in seinem Gesicht erkennen. Aber mehr geschieht nie. Er, der mich beobachtet. Ich, die ihn dabei beobachtet, wie er mich beobachtet. Eine endlose Rückkoppelung des Verlangens, das niemals wirklich erfüllt wird.
An einem Abend im Herbst mache ich mich gerade zum Ausgehen fertig, als meine beste Freundin anruft. Wir unterhalten uns eine Weile, und als ich das Haus verlasse, ist es schon fast dunkel. Ein Taxi braust an mir vorbei. Ohne nachzudenken hebe ich den Arm, um es anzuhalten. Der Wagen bremst schlingernd und bleibt eine Straßenecke weiter mit quietschenden Reifen stehen. Ich flitze los, um es einzuholen, belle atemlos mein Fahrziel durch das Seitenfenster und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen.
Das Wageninnere ist erfüllt von einem süßlichen chemischen Geruch, wie Pfefferminz, als wäre es gerade erst gereinigt worden, und die Innenbeleuchtung ist ausgeschaltet. Ich bin so in Gedanken
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