Die Juliette Society: Roman (German Edition)
über niemanden vor mir hergehen, selbst wenn der Pfad sich einmal ein Stück gerade hinzieht. Es kommt mir auch niemand entgegen. Der Weg sieht die ganze Strecke über genau gleich aus: ein Schotterweg mit einer Begrenzung aus Feldsteinen. Dahinter ist er gesäumt von dichten Sträuchern und Bäumen, zwischen denen Wildblumen und Orchideen in so lebendigen Farben prangen, dass sie im Dunkeln zu leuchten scheinen. Der Pfad wird beleuchtet von einem seltsam diffusen Licht ohne sichtbare Quelle – ein schimmerndes Halbdunkel, das alles ganz lebendig wirken lässt und das wenige Zentimeter abseits des Weges abebbt.
Ich habe dasselbe rote Cape an wie auf der Eyes Wide Shut -Party, dazu schwarze Mary Janes mit flachen Absätzen. Ich fühle mich wie Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter. Die Ruhe, die Totenstille und die Abgeschiedenheit zerren an meinen Nerven. Ich gehe, so zügig ich kann, und hoffe bei jeder weiteren Kurve, dass ich mein Ziel endlich erreicht habe. Aber der Pfad nimmt kein Ende.
Ich haste diesen dunklen Weg entlang, Gott weiß wohin, und zwei Gedanken wollen mir einfach nicht aus dem Kopf gehen:
Was tue ich hier?
Und:
Bundy, du Arschloch.
Ich verfluche Bundy über alle Maßen, denn ich weiß, ich weiß einfach, dass er mich auch diesmal wieder gelinkt hat. Aber ich muss Anna finden, also habe ich keine Wahl. Ich verfluche den Tag, an dem Bundy geboren wurde, ich verfluche seine Eltern, ich verfluche seine bescheuerten Tattoos, seinen hässlichen Wurstschwanz und seine Stinkefüße. Ich kann die Stimme in meinem Kopf einfach nicht zum Schweigen bringen. Schließlich wird sie so ohrenbetäubend und aufdringlich, dass ich aufpassen muss, nicht laut vor mich hin zu fluchen. Auch wenn niemand hier ist, der es hören könnte. Meine Gedanken drehen sich im Kreis und immer wieder stolpere ich über die gleiche Schlussfolgerung:
Anna.
Ich bin hier, um Anna zu finden.
Ich muss Anna finden.
Allein der Gedanke daran macht mich entschlossener, mein Ziel zu erreichen, und ich beschleunige noch einmal meine Schritte.
Ich bin so in Gedanken versunken, dass ich ganz vergesse, wo ich überhaupt bin, und damit legt sich meine Angst davor, hier allein durch die Dunkelheit zu stolpern. Obwohl weit und breit keine Menschenseele zu sehen ist, wimmelt es hier vor Leben, das kann ich hören; so wie die Geräusche der Natur die Luft erfüllen, wenn man durch einen Wald spaziert, auch wenn man nicht sieht, woher sie kommen. Doch was ich hier höre, ist nicht der Wald, es sind Sexgeräusche, Ficklaute, der Klang von entfesselter Lust. Gelächter, Kreischen, Ächzen und Stöhnen. Das Klatschen von Haut auf Haut. Und wenn ich in die Dunkelheit spähe, abseits des Weges, bilde ich mir ein, ich könnte in den Zweigen verschlungene Körperteile erkennen, Körper, die sich auf Ästen räkeln, Pobacken, die aus Büschen sprießen, brünstige Gestalten im Dickicht. Es fühlt sich an wie im Garten Eden vor dem Sündenfall, als Sex und Natur noch eins waren, ursprünglich, körperlich und wild. Ich bin umfangen von Versuchungen.
Obwohl es so scheint, als bewege ich mich auf das Haus zu, kann ich mir dessen nicht sicher sein, denn manchmal führt der Weg wieder zurück in die Richtung, aus der er kam, oder er schlägt ein paar scharfe Zickzackkurven ein. Allmählich verliere ich die Orientierung. Ich habe keine Ahnung, ob ich vorwärts oder zurückgehe, nach oben oder nach unten. Und dennoch steht immer der hohe, schlanke Zierturm der Villa vor mir wie ein Leuchtturm, der mir den Weg weist.
Ich fühle mich, als stapfe ich durch die Eröffnungsszene von Citizen Kane , durch die berühmten ersten Einstellungen, die mit einem ominösen Betreten-Verboten- Schild beginnen, das an einem Maschendrahtzaun hängt, gefolgt von einer langsamen Kamerafahrt über weitere Zäune, Zugbrücken und Gittertore – von denen eines kunstvoller, massiver und unheilvoller wirkt als das andere. Dann folgen noch ein paar ruhige Überblendungen auf die Ruinen von Xanadu, dem monumentalen Irrsinn, den Kane erbauen ließ, um seinen Reichtum zu feiern, mit dem Furcht einflößenden gotischen Anwesen, das sich im Hintergrund erhebt wie ein Grabstein.
Ich stelle mir all diese Zäune und Gittertore als von meiner Persönlichkeit konstruierte Begrenzungen und Hürden vor, die ich im Laufe meiner Kindheit und Jugend errichtet habe, um mich vor der Welt zu schützen. Ich bin so sehr mit meinem gegenwärtigen Leben beschäftigt, dass ich ganz vergessen habe,
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