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Die Juliette Society: Roman (German Edition)

Die Juliette Society: Roman (German Edition)

Titel: Die Juliette Society: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sasha Grey
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dass all diese unsichtbaren Begrenzungen überhaupt da sind, und anstatt mich zu beschützen, versperren sie mir die Sicht auf mich selbst, darauf, wer ich wirklich bin. Mir wird klar, dass ich nicht so durch mein gesamtes Leben trotten will. Ich will nicht so enden wie Charles Foster Kane, der noch im Angesicht des Todes verleugnet, was ihn angetrieben hat. Ein gequälter Mann, verbarrikadiert in einem Geisterhaus, dazu verdammt, mit seinem Reichtum zu verrotten.
    Das Anwesen, durch das ich laufe, ist genauso verlassen wie das von Kane. Je weiter ich gehe, desto skurriler und exzentrischer kommt es mir vor. Es ist eine Ruine, die altertümlich wirken soll, aber den Archäologen, der eines Tages darüber stolpern wird, verwirren wird. Ich gehe vorbei an Gebäuden, die direkt am Weg stehen und sich über mir zu erheben scheinen. Doch wenn ich vor ihnen stehe, sehe ich, dass es bloß optische Täuschungen sind, nichts als verzerrte Fassaden mit Treppen, die ins Nichts führen. Ich komme an einem halb fertigen Amphitheater vorbei, in dem es zwar Ränge, aber keine Bühne gibt, an Säulenreihen, die die Gesichter von Kobolden und Teufeln tragen. Gewaltige, zerbröckelnde Steinstatuen ragen hinter Baumwipfeln und aus dem Dickicht hervor – sie stellen Riesen, Götter, Göttinnen, Nymphen und sagenhafte Kreaturen dar, die sich allesamt entweder entblößen oder mit irgendeiner Form der sexuellen Begegnung beschäftigt sind. Eine Riesenschildkröte trägt einen riesigen Phallus auf dem Rücken. Eine Sphinx hält sich die Brüste, aus denen Wasser spritzt. Ein Koloss in Kriegsrüstung schwingt kampfbereit seinen gewaltigen, erigierten Penis wie ein Schwert.
    Mir scheint, als sei diese Anlage von irgendeinem unermesslich reichen Geldsack als Monument seiner überbordenden sexuellen Fantasie erbaut worden, der schließlich, genauso wie Kane, aus Altersgründen oder aus Unzufriedenheit impotent wurde und seine Schöpfung Mutter Natur überlassen hat, die diese steinernen Gottheiten dann in ihre Arme schloss und die Figuren mit Moos, Ranken, Wurzeln und Unkraut bedeckte.
    Ich spüre, dass mich die Figuren beobachten, ich höre die Sexlaute in den Bäumen und im Dickicht und haste den Pfad entlang, biege um eine Ecke, umrunde eine Baumgruppe und gelange auf eine von Bäumen gesäumte Allee. Die Äste der Bäume greifen ineinander und Bilden einen Baldachin über mir. Die Allee führt hinauf auf einen großen Felsen am Hang, in den das Gesicht eines Ungeheuers gemeißelt ist – pausbäckig und rund, mit einem Bart, kleinen, stechenden Augen und einem Mund, in dem nur noch eine Handvoll kleiner, schiefer Zähne sitzen. Es erinnert mich an das Vagina-Dentata-Graffito an der Wand vor der Fuck Factory , an eine Muschi mit Zähnen, Augen und Schambehaarung.
    Über der Oberlippe ist eine Inschrift eingehauen und rot eingefärbt wie ein Tattoo:
    Audacissime Pedite
    Der Mund des Menschenfressers steht weit offen, als lache oder schreie er, das ist schwer zu sagen. Oder vielleicht brüllt er auch vor Freude über irgendeinen Witz, den nur er versteht. Der Menschenfresser starrt mich an, verspottet mich, als hätte er erkannt, dass ich nicht hierhergehöre. Ein Teil von mir will einfach in seinen Mund hineinrennen und sich dort verkriechen, ganz gleich, was mich dort in der Finsternis erwarten mag, nur damit ich seinem Blick nicht mehr ausgesetzt bin. Denn dorthin führt der Pfad, in das Maul des Menschenfressers. Dort endet er. Es gibt sonst keinen anderen Weg, außer umzukehren und wieder zurückzugehen, aber das kommt nicht infrage. Ich muss Anna finden.
    Ich höre Musik, den Klang von Trommeln und Flöten. Sie scheint aus dem Maul des Menschenfressers zu kommen.
    Ich schwanke zwischen Angst und Entschlossenheit, und ich wünschte, Anna wäre jetzt bei mir. Ich frage mich, was Anna tun würde. Aber ich kenne die Antwort bereits. Nichts hiervon würde sie aus der Fassung bringen. Sie würde sich unbekümmert hineinstürzen, denn für sie ist jede Erfahrung ein neues Abenteuer, eine neue Herausforderung, eine neue Grenze, die es zu überschreiten gilt.
    Das raunende Geschlecht spricht zu mir: »Tritt ein.« Also gehorche ich.
    Drinnen ist es so dunkel, dass ich über einen Gesteinsbrocken stolpere und beinahe stürze. Ich strecke die Arme zu beiden Seiten aus, um mich an den Wänden entlangzutasten, durch das Maul und den Rachen des Menschenfressers. Der Durchgang ist so eng, dass ich die Arme abwinkeln muss, aber ich kann aufrecht

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