Die Juliette Society: Roman (German Edition)
stehen, ohne mich ducken zu müssen. Die Wände fühlen sich kalt und klamm an.
Ich ertaste mir meinen Weg, setzte behutsam einen Schritt vor den anderen, bis sich meine Augen nach und nach an einen sanften Lichtschein vor mir gewöhnen. Ich erreiche eine lange in den Stein gehauene Treppe, mit einem rostigen, schmiedeeisernen Geländer. Sie führt hinab in ein natürliches Höhlensystem. Die Decke über mir hängt durch wie ein Zeltdach bei starkem Regen. Lange, spindeldürre Stalaktiten ragen herab, leuchtend-rot und braun an den Ansätzen und gelblichweiß an den Spitzen wie die Stacheln eines riesigen Seeigels. Wasser tropft von diesen Stacheln in kleine Vertiefungen im Felsboden, und das Platschen hallt um mich herum wie Glockenläuten. Unter meinen Füßen fließen Rinnsale, und ich muss mich am Geländer festhalten, damit ich nicht ausrutsche. Auch das Geländer selbst fühlt sich feucht an, als würde es faulen. Die Luft ist abgestanden und schneidend.
Ich fühle mich, als würde ich durch den Schlund des Menschenfressers in den Bauch der Welt hinabsteigen, wie Jona, der ziellos durch das Innere des Walfischs irrt. Ich kann nirgends hin, nur vorwärts, wohin auch immer mich das führen wird.
Dann kann ich das Ende der Treppe erkennen und sehe mich um, um abzuschätzen, wie weit ich schon gegangen bin. Ich befinde mich bereits auf halbem Weg nach unten, und umso weiter ich hinuntersteige, desto lauter und wilder wird die Musik. Ich höre Stimmen. Alle scheinen durcheinanderzuschreien, um sich Gehör zu verschaffen.
Am Fuß der Treppe ist ein Durchgang, kaum breit genug für eine Person, und ich muss mich bücken, als ich mich hindurchzwänge. Nach ein paar hundert Metern führt der Gang auf eine Plattform hinaus, von der aus man eine weitläufige Grotte überblickt. In den Felsen gehauene Stufen führen hinab.
Ich stehe auf der Vorderseite der Höhle und auf der mir gegenüberliegenden Seite bricht ein natürlicher Wasserfall aus einer breiten Spalte oben in der Felswand hervor. Dahinter ist der offene Nachthimmel zu sehen. Mondlicht erhellt die Grotte mit einem silbrig-geisterhaften Schein. Lodernde Fackeln an den Felswänden bieten eine weitere Lichtquelle, gerade ausreichend, damit man das leuchtend bunte Fresko erkennen kann, mit dem die Wände der Grotte bemalt sind. Es stellt den Garten dar, durch den ich gerade gekommen bin. Ich erkenne den Pfad, der sich hindurchwindet und auch die steinernen Statuen, die ich aus dem Blattwerk herausragen sah. Der Boden der Grotte ist bedeckt von leuchtend rosanem Moos, das sich an den Fels klammert und im Schein der Fackeln glänzt und schimmert wie poliertes Gold.
Am Fuße des Wasserfalls teilt sich das Wasser in zwei Ströme, die um eine Insel herumfließen. Auf dieser Insel steht ein kleiner, runder Säulenbau, wie ein Podium oder eine Art Bühne. Sie ist zu einer Seite hin offen, wird vom Mondlicht angestrahlt und von mehreren Gestalten flankiert, die weite Gewänder tragen und groteske Tierköpfe aufhaben. Alle spielen ein Instrument – seien es auch nur bauchige Handtrommeln oder kleine Zimbeln. Zwei der Gestalten musizieren auf langen Holzflöten mit trompetenartig geweiteten Enden. Die Musik ist so laut und durchdringend, dass sie die Grotte mit einem benebelnden Getöse aus widersprüchlichen Rhythmen und Tönen erfüllt, und ich spüre, wie sie in meinem Körper nachhallt.
Auf dem Podium steht ein mit rotem Samt gepolsterter, goldener Thron, dessen Vorderbeine von zwei geschnitzten Löwenköpfen geschmückt sind. Auf diesem Thron sitzt eine verschleierte Gestalt in langen, fließenden, weißen Gewändern, die ihren Körper so lose umspielen, dass man nur schwer auf ihr Geschlecht schließen kann. Zu ihren Füßen kauert eine Frau, eine nackte Frau mit blonden Haaren, genau wie Anna, und mein Herz setzt einen Schlag lang aus, als ich sie sehe. Doch ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich wirklich um Anna handelt, denn sie ist zu weit weg und sie kniet vor der Gestalt auf dem Thron und hat den Kopf in deren Schoß vergraben. Die Hände der thronenden Gestalt stecken in Handschuhen und ruhen auf dem Kopf der Frau wie die eines Priesters, der einem seiner Schäfchen die Absolution für seine Sünden erteilt.
Die Frau hat offensichtlich schwer gesündigt, denn ihr Rücken ist übersät von äußerst schmerzhaft aussehenden, roten Striemen, und eine weitere gewandete Gestalt steht mit einer erhobenen Peitsche hinter ihr, bereit, sie weiter zu
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