Die Jungens von Burg Schreckenstein
kreidebleich. Als Stephan in die angegebene Richtung schaute, ging es ihm nicht anders. Der Hautfarbe nach waren sie jetzt ganz entschieden Zwillinge, doch das war kein Wunder. Denn wer saß da mit einer jungen Dame im Abendkleid? — Doktor Waldmann! — Aus der Traum. Auch er hatte sie entdeckt, jedenfalls ließ er sofort die Hand der Dame los und starrte herüber, als habe er Gespenster vor sich. Die Schrecksekunde Doktor Waldmanns war trotz allem Unglück ein Glück, denn auch der Kleiderkasten hatte dessen fassungsloses Erstaunen bemerkt und sich darauf mit den Worten: „Na, dann ist ja alles in Ordnung“, schleunigst zurückgezogen. Offenbar fürchtete er den Groll des Vaters, die Jungen hereingelassen zu haben. Wie dem auch sei, die beiden hatten jedenfalls jetzt nur noch einen Gegner. Doktor Waldmanns Mund stand immer noch offen, wie das Garagentor der Neustädter Feuerwehr. Fast hätte Stephan darüber lachen müssen, dazu war jedoch die Lage zu ernst. Auch die Dame schien sichtlich überrascht und schaute fragend von einem zum andern.
„Das... das... ist doch die Höhe!“ quetschte Herr Waldmann endlich mühsam hervor. Die Dame ging. Stephan fühlte sich wie vor seinem entscheidenden Kugelstoß. In Blitzesschnelle durchzuckten alle möglichen Gedanken sein Hirn.
Jetzt half nur noch die Wahrheit! Doktor Waldmann mußte eingeweiht werden, sonst war alles verloren.
„Wir sind Ihnen eine Erklärung schuldig“, begann er und setzte sich unaufgefordert mit zitternden Knien auf den Stuhl, den die Dame soeben verlassen hatte. Auch Ottokars Knie schienen ihren Dienst versagt zu haben, denn er saß schon. Und dann packten sie aus. Doktor Waldmann hörte nach anfänglichen Einwänden immer interessierter zu. Nur einmal wurde er abgelenkt, als nämlich die Dame, die bei ihm gesessen hatte, ans Mikrofon trat und zu singen begann.
„Mensch, die singt ja!“ entfuhr es Ottokar, worauf Doktor Waldmann sehr böse antwortete:
„Warum, zum Donnerwetter, soll sie denn nicht singen?“
Doch dann hörte er wieder geduldig zu, wenngleich seine Hände in ständiger Bewegung waren und einen Strohhalm nach dem anderen zerlegten. Als Stephan geendet hatte, starrte Doktor Waldmann gedankenverloren vor sich hin. Alles hing jetzt von ihm ab. Stephan und Ottokar waren völlig in seiner Hand. Die Sekunden vergingen wie Stunden, aber Doktor Waldmann schwieg immer noch.
Da tat Ottokar, der schon während Stephans Erklärung dauernd zu der Dame hinübergeschaut hatte, den Mund auf:
„Wer ist eigentlich die...“ Weiter kam er nicht.
Doktor Waldmann zuckte zusammen, er atmete schwer, und während seine Hände gleich ein halbes Dutzend Strohhalme zerdrückten, holte er tief Luft und sagte, mit zitternder Stimme:
„Jetzt bin ich wohl euch eine Erklärung schuldig. Die junge Dame dort oben ist Sonja... meine Tochter!“
Stephan und Ottokar waren sprachlos. Der biedere Doktor Waldmann hatte eine Tochter und die war Sängerin in einer Bar! Sieh mal an. Vielleicht führte Herr Waldmann ein Doppelleben?
„Daß mir das aber niemand erfährt“, sagte der jetzt viel interessantere Lehrer.
„Ehrensache“, antwortete Stephan und gab ihm die Hand. Auch Ottokar besiegelte sein Versprechen mit Handschlag, obwohl er sich vor Freude am liebsten auf die Schenkel geschlagen hätte. Jetzt stand Geheimnis gegen Geheimnis, der Einsatz hatte sich gelohnt.
„Ihr seid die tollsten Jungens, die mir je untergekommen sind“, fuhr der Doktor sichtlich erleichtert fort, „wenn ihr Hunger habt oder Durst, bitte...“
Der Ober wurde gerufen. Stephan wollte ein Glas Milch und Ottokar ein Schnitzel und Limonade.
„Bedaure, wir haben Weinzwang!“ sagte der Ober von oben herab.
„Und wir sind Sportler im Training“, konterte Stephan schlagfertig. Doktor Waldmann mußte lachen, bestellte einen Wein für sich, und die beiden bekamen das Gewünschte.
Allen fiel ein Stein vom Herzen, man hatte nichts mehr voreinander zu verbergen, und so wurde es richtig gemütlich. Sonja kam zurück, und Doktor Waldmann stellte ihr Stephan und Ottokar vor. Die beiden fanden schnell heraus: Sonja war ein feiner Kerl. Mit dem Geld, das sie bei Klinke verdiente, finanzierte sie ihr Gesangsstudium. Sie tat das, um ihrem Vater nicht auf der Tasche zu liegen. Darüber hinaus wußte sie natürlich eine Menge über Klinke und erbot sich sofort, weitere Nachforschungen anzustellen. Darauf wurde sie zur Chef-Spionin ernannt. Sie hatte die Aufgabe, Besuche Klinkes bei
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