Die Jungfernbraut
Lage — geschützt vor englischen Invasoren im Süden und aggressiven schottischen Hochländern im Norden — zur Wiege von Religion und Staatsgewalt geworden war. Aber im Augenblick konnte Sinjun selbst der schönsten Landschaft nichts abgewinnen.
»Siehst du die merkwürdigen Hügel dort drüben?« sagte Colin. »Sie sind vulkanischen Ursprungs und können ziemlich hoch werden. Zwischen diesen Basalthügeln entstehen manchmal Seen, die sehr fischreich sind. Heute haben wir keine Zeit, aber bald werden wir zur Küste reiten. Sie ist steil und felsig, und die Nordsee peitscht sie mit rasender Wut. Viele der winzigen Fischerdörfer sind sehr malerisch. Wir werden den West Lomond erklimmen — das ist der höchste Berg. Er hat die Form einer Glocke, und die Aussicht vom Gipfel ist einfach atemberaubend.«
»Deine Lektionen sind sehr lehrreich, Colin, aber ich möchte lieber etwas über Vere Castle hören, über dieses baufällige Schloß, in das du mich bringst.«
»West Lomond liegt südwestlich von Auchtermuchty.«
Sinjun gähnte.
Er preßte die Lippen zusammen. »Ich bemühe mich, dich zu unterhalten und dir gleichzeitig etwas über deine neue Heimat beizubringen. Dein Sarkasmus ist wirklich fehl am Platz. Treib mich nicht dazu, unsere Heirat zu bedauern.«
Sie starrte ihn wütend an. »Warum nicht? Du hast mich ja auch dazu gebracht, sie zu bedauern!« Mit diesen Worten galoppierte sie einfach davon, obwohl der Schmerz ihr Tränen in die Augen trieb.
Das Gasthaus mit dem seltsamen Namen Die gerupfte Gans stand in einem kleinen Dorf am Fuße eines jener Basalthügel. Auf dem großen, erst vor kurzem gemalten Schild, das an Ketten hing, war eine große gerupfte Gans mit kleinem Kopf und langem Hals zu sehen. Sinjun hatte immer geglaubt, alle Gasthöfe in England und Schottland stammten aus der Zeit Elizabeths I oder noch früheren Epochen, und sie wunderte sich über dieses ganz neue Gasthaus mit seinem blitzsauberen Hof. Durch die geöffneten Fenster und Türen war lautes Stimmengewirr zu hören, und trotz ihrer jämmerlichen Verfassung mußte Sinjun über diesen schottischen Dialekt schmunzeln.
Sie zügelte ihr Pferd und blieb ganz ruhig sitzen, in der Hoffnung, daß der Schmerz etwas nachlassen würde.
Gleich darauf sah sie Colin neben sich stehen; er streckte die Arme nach ihr aus, um sie vom Pferd zu heben. Normalerweise wäre sie einfach lachend abgesprungen, aber jetzt war sie heilfroh über seine ritterliche Geste, allerdings nur, bis er sie zu küssen versuchte. Sie versteifte sich, und er ließ sie sofort los. Schließlich standen sie auf dem belebten Hof eines Gasthauses. Die Wirtin, eine Frau namens Girtha, hieß Colin so herzlich willkommen, als wäre er ein lange verschollener Neffe, beklagte seine Magerkeit und machte Sinjun Komplimente, wie hübsch sie sei, und wie perfekt das blaue Reitkostüm zu ihren blauen Augen passe — alles, ohne auch nur einmal Luft zu holen.
Die Gaststube war dunkel, kühl und sehr gemütlich. Die Einheimischen, die hier ihre Biere tranken und sich angeregt unterhielten, schenkten den Neuankömmlingen keine Beachtung.
Colin bestellte Broonies und beobachtete gespannt, wie Sinjun in einen der Ingwerkuchen aus Hafermehl biß. Zu seiner großen Erleichterung nickte sie der Wirtin beifällig zu und ließ es sich sichtlich schmecken.
»Und jetzt gibt's Haggis«, kündigte er an.
»Ich habe Agnes gefragt, woraus Haggis, diese Schafswurst, besteht. Es hört sich nicht sehr appetitlich an.«
»Du wirst dich daran gewöhnen, wenn du siehst, daß alle es essen, und daß es allen großartig schmeckt. Unsere Kinder werden damit entwöhnt werden. Deshalb solltest du es gleich mal probieren.«
Ihre Kinder! Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Kinder! Du lieber Himmel, sie waren noch keine Woche verheiratet.
Er grinste über ihre Verblüffung. »Ich habe dir zugegebenermaßen zu hart zugesetzt, aber nachdem ich mich dreimal in dich ergossen habe, ist es durchaus möglich, daß du schon schwanger bist.«
»Nein«, widersprach sie energisch. »Nein, ich bin noch viel zu jung. Außerdem weiß ich nicht, ob ich überhaupt Kinder bekommen möchte. Als die arme Alex schwanger war, mußte sie sich ständig übergeben, zumindest anfangs. Sie wurde von einer Sekunde auf die andere ganz weiß im Gesicht, und dann ging's los. Hollis, unser Butler, hat in jedes Zimmer von Northcliffe Hall einen Nachttopf stellen lassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich will jetzt noch keine
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