Die Jungfernbraut
Beinen und sagte ruhig: »Colin, mir geht es leider nicht sehr gut.«
Sie mußte zugeben, daß er rasch handelte. Ohne jemandem irgendwelche Erklärungen abzugeben, hob er sie hoch und trug sie eine breite Treppe hinauf. Dann ging es einen breiten, langen Korridor entlang, der dunkel war und muffig roch. Es kam ihr so vor, als hätte sie einen Kilometer in seinen Armen zurückgelegt, bis er endlich ein riesiges Schlafzimmer betrat und sie behutsam aufs Bett legte. Dann begann er ihre Röcke hochzuschieben.
Sie schlug nach seinen Händen. »Nein!«
»Joan, laß mich sehen, wie schlimm es ist. Um Gottes willen, ich bin dein Mann, und ich kenne schon alles an dir.«
»Geh weg! Ich habe im Moment keine großen Sympathien für dich, Colin. Bitte laß mich allein!«
»Wie du willst. Soll ich dir heißes Wasser bringen lassen?«
»Ja, danke, aber geh weg.«
Keine zehn Minuten später klopfte ein junges Mädchen an. »Ich heiße Emma«, sagte es, »und ich bring Ihnen 's heiße Wasser, Mylady.«
»Danke, Emma.« Sie schickte das Mädchen fort, sobald das möglich war.
Sie wusch sich vorsichtig, denn es war eine schmerzhafte Prozedur, und kroch sodann ins Bett, blieb aber dicht an der Kante liegen. Sie fühlte sich hier fehl am Platz und war wütend auf Colin. Wie hatte er ihr nur eine so wichtige Sache verschweigen können? Sie war die Stiefmutter von zwei Kindern, denen offenbar allein schon ihr Anblick zuwider war. Zu ihrer großen Erleichterung schlief sie aber nach wenigen Minuten ein.
Nun aber war sie wach und würde aufstehen und sich nicht nur mit Colin, sondern auch mit seiner Tante, seiner ehemaligen Schwägerin und seinen beiden Kindern befassen müssen. Sie hatte nicht die geringste Lust dazu. Alle würden sie jetzt für eine verweichlichte Engländerin halten, denn die Wahrheit hatte Colin ja niemandem sagen können. Gerade als sie aus dem Bett steigen wollte, öffnete sich die Tür, und ein kleines Gesicht tauchte im Türspalt auf.
Es war Dahling.
KAPITEL 9
»Du bist ja wach!«
»Ja, ich wollte gerade aufstehen und mich anziehen.«
»Warum hast du dich ausgezogen? Papa wollte uns nicht sagen, was dir fehlt.«
»Ich war nur müde. Es war eine lange Reise von London hierher. Dein Papa wollte möglichst schnell zu dir und Philip zurückkommen. Wolltest du etwas Besonderes?«
Dahling betrat langsam das Zimmer. Sinjun sah, daß sie ein schweres und viel zu kurzes Wollkleid und schwere Stiefel trug, die sehr abgetragen und viel zu klein waren. In diesen Sachen konnte sich das Kind doch unmöglich wohl fühlen.
»Ich wollte sehen, ob du wirklich so häßlich bist, wie ich dachte.«
Altkluger kleiner Teufel, dachte Sinjun, die sich an Amy erinnert fühlte, eines von Ryders Kindern, eine freche Range, die mit Aggressivität ihre tiefen Ängste zu kaschieren versuchte. »Dann mußt du aber näher kommen. Am besten setzt du dich neben mich aufs Bett, damit du mich genau betrachten kannst. Du willst doch bestimmt ein gerechtes Urteil abgeben. Weißt du, Gerechtigkeit ist sehr wichtig im Leben.«
Als die Kleine das Podest erreichte, beugte sich Sinjun hinab und hob sie zu sich aufs Bett hinauf. »So, jetzt kannst du mich nach Herzenslust begutachten.«
»Du redest so komisch — wie Tante Arleth. Sie schimpft immer mit Philip und mir, daß wir nicht wie alle anderen hier sprechen dürfen, nur wie Papa.«
»Du sprichst sehr gut.« Sinjun hielt still, während die Kleine mit den Fingern ihr Gesicht betastete und auch vorsichtig die rote Schramme berührte. »Was ist das?« »Ein Steinsplitter hat mich verletzt, als dein Vater und ich in Edinburgh waren«, schwindelte Sinjun. »Es ist nichts Schlimmes, und die Narbe wird auch bald verheilen.«
»Du bist nicht schrecklich häßlich, nur ein bißchen.«
»Danke, da bin ich aber schon sehr erleichtert. Du bist auch nicht häßlich.«
»Ich? Häßlich? Ich bin eine große Schönheit, wie meine Mama. Das sagen alle.«
»Oh? Laß mal sehen.« Sinjun ließ nun ihrerseits ihre Finger über das Gesicht der Kleinen gleiten, verweilte hier und dort, gab aber keine Kommentare ab.
Dahling wurde zappelig. »Ich bin eine große Schönheit, und wenn ich jetzt keine bin, werde ich eine sein, wenn ich erwachsen bin.«
»Du siehst deinem Vater ähnlich, und das ist gut, denn er ist ein schöner Mann. Du hast seine Augen — wunderschöne dunkelblaue Augen. Aber meine sind auch ganz schön, findest du nicht? Sie sind Sherbrooke-blau. Weißt du, das war mein
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