Die Jungfrau Im Eis
nötig sein. Ihr werdet ihn nicht verraten. Es stimmt, was ich gesagt habe: ein Waldbauer und seine Frau haben mich aufgenommen und mir geholfen. Aber am zweiten Tag kam ein junger Mann und fragte nach einer Gesellschaft wie der, in der ich gereist war, bevor sie durch meine Schuld auseinanderbrach. Ich trug dieselben Kleider wie heute morgen, als wir uns begegneten, und doch erkannte er mich, und auch ich wußte, in wessen Auftrag er kam, denn alles an ihm verriet seine adlige Abstammung. Er sprach ein etwas stockendes Englisch, aber fließendes Französisch, und er erzählte mir, mein Onkel sei zurückgekehrt und befinde sich in Gloucester bei der Kaiserin. Er habe ihn heimlich geschickt, damit er uns finde und sicher zu ihm bringe. Dies und nicht mehr ist sein Auftrag, aber er ist von großer Gefahr umgeben, denn er kann jederzeit in die Hände des Sheriffs fallen.«
»Das ist bis jetzt nicht geschehen«, sagte Cadfael gelassen.
»Es ist gut möglich, daß er ihnen bis zum Schluß durch die Finger schlüpfen und Euch mit sich nach Gloucester nehmen kann.«
»Aber nicht ohne Yves. Ich werde nicht ohne meinen Bruder gehen, und das weiß er. Und ich wollte auch nicht herkommen, aber er hielt es für besser. ›Gebt mir das Gefühl‹, so sagte er, ›daß wenigstens Ihr in Sicherheit seid, und überlaßt die weitere Suche mir.‹ So habe ich getan, um was er mich bat und werde es auch weiterhin tun. Aber ich könnte es nicht ertragen, wenn er, nur weil er helfen wollte, in die Hände des Königs fallen und endlos lang in einem Kerker schmachten sollte.«
»Rechnet nicht immer mit dem Schlimmsten«, munterte Cadfael sie auf. »Erwartet nur das Beste, verhaltet Euch so, daß es eintreten kann und überlaßt alles andere Gott. Aber Ihr habt Eurem Helden noch keinen Namen gegeben.« Nein keinen Namen - aber er hatte ein Gesicht und ein sehr bemerkenswertes dazu.
Sie besaß die Leichtigkeit der Jugend, die tiefen Schmerz empfinden kann, aber auch Hoffnung, Freude und die Hingabe an einen Helden. Der bloße Gedanke an ihren Beschützer hatte sie aus den tiefen Schatten der Schuld und des Todes emporgehoben, und als sie jetzt von ihm sprach, strahlten ihre Augen. »Er heißt Olivier de Bretagne. So wird er wegen seiner Abstammung in seiner Heimat genannt. Er ist nämlich in Syrien geboren, und seine Mutter war Syrerin, aber sein Vater war ein fränkischer Kreuzritter aus England. Er nahm den Glauben seines Vaters an, und um sich dessen Leuten anzuschließen, machte er sich auf den Weg nach Jerusalem. Dort trat er vor sechs Jahren in den Dienst meines Onkels und ist ein bevorzugter Ritter. Er hat ihn hierher nach England begleitet, und wen anders als ihn sollte man mit diesem Auftrag betrauen?«
»Und obwohl er sich hier kaum auskennt und nicht fließend Englisch sprechen kann«, sagte Cadfael anerkennend, »hatte er keine Angst, sich in diese unruhige Gegend, ins Gebiet der Feinde seines Herren zu begeben?«
»Er hat vor nichts Angst! Er ist die Tapferkeit in Person! Oh, Bruder Cadfael, wenn Ihr wüßtet, wie großartig er ist! Wenn Ihr ihn nur kennenlernen könntet - es bliebe Euch gar nichts anderes übrig, als sein Freund zu werden!«
Cadfael erwähnte mit keinem Wort, daß er ihn gesehen, daß diese erste Begegnung bereits stattgefunden hatte, wenn sie auch nur kurz gewesen war - wie die flüchtige Erinnerung an einen Traum. Eine wehmütige Wärme stieg in ihm auf, als er daran dachte, daß noch ein anderer einsamer Mann, der das Kreuz trug, irgendwo in diesem brennenden Land aus Sonne und Meer und Sand eine Frau gefunden hatte, die er liebte und die ihn nicht weniger geliebt haben mußte, denn sie hatte ihm einen solchen Sohn geschenkt. Im Osten gab es viele solcher Sprößlinge ungleicher Eltern. Es war kein Wunder, daß einer von ihnen den väterlichen Glauben angenommen und den Weg in das Land seines Vaters gefunden hatte. Wer die Eltern dieses jungen Mannes gewesen waren, spielte eigentlich keine Rolle.
»Ich gebe Euch das Versprechen, um das Ihr nicht gebeten habt«, sagte Bruder Cadfael. »Ich werde Olivier nicht verraten, und ich werde nichts tun, um ihn auszuliefern. In Eurer und seiner Not werde ich Euer Freund sein.«
9. Kapitel
Yves schreckte hoch. Durch den leichten Schlaf, der ihn schließlich doch übermannt hatte, waren Geräusche an sein Ohr gedrungen, so schwach und entfernt, daß er glaubte, sie geträumt zu haben. Neben ihm schlief Bruder Elyas tief und erschöpft, zu tief, um träumen zu
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