Die Jungfrau Im Eis
es genauer zu betrachten. Es war ein einfacher Reiseumhang aus rauhem, schwarzem Stoff, wie ihn die Benediktiner trugen. Der Umhang eines Mannes, eines Mönches. Gehörte er Bruder Elyas?
Wortlos ließ er ihn fallen und wühlte, wie ein Terrier, der eine Ratte verfolgt, mit beiden Händen im Heuhaufen, bis er auf den gestampften Lehmboden stieß. Dort, tief unten verborgen, lag noch mehr schwarzer, zusammengerollter Stoff. Als er das Bündel herauszog und ausschüttelte, fiel ein zusammengeknülltes, weißes Bällchen heraus. Er bückte sich danach, strich es glatt und erkannte, daß es das weiße, leinene Brusttuch einer Nonne war. Es war jetzt schmutzig und zerknittert. Und als er den schwarzen Stoff aufhob, stellte er fest, daß es eine schlankgeschnittene Kutte, die mit einem Gürtel geschnürt wurde und ein kurzer Umhang aus demselben Material war. All das war sorgfältig verborgen worden, damit kein Schafhirte zufällig darauf stieß, ehe nicht das ganze Heu aufgebraucht war.
Cadfael breitete das Ordensgewand auf dem Boden aus und befühlte Schulter, Ärmel und Brust auf der rechten Seite.
Tastend fand er Spuren, die für seine Augen auf dem schwarzen Stoff nicht auszumachen gewesen waren. Auf der rechten Seite der Brust war ein steifer Fleck von der Größe einer Männerhand. Als er sie befühlte, bröckelten kleine Teilchen von den verklebten Fäden ab. Die Falten an der Schulter und am Ärmel wiesen kleinere Flecken und Streifen derselben Art auf.
»Blut?« fragte Reyner, der ihm verwundert zusah. Cadfael gab keine Antwort. Grimmig rollte er Kutte und Umhang zusammen, steckte das Brusttuch hinein und nahm das Bündel unter seinen Arm. »Komm, laß uns sehen, wohin diejenigen, die die Nacht hier verbracht haben, gegangen sind.«
Wohin die beiden letzten Benutzer der Hütte sich gewandt hatten, war leicht zu erkennen. Von der dünnen Schneedecke vor der Hüttentür, in der die Abdrücke großer und kleiner Füße sich deutlich abzeichneten, führten zwei Spuren den Hang hinunter und vereinigten sich dort. Die sie hinterlassen hatten, waren zunächst durch nicht allzu tiefen Schnee gestapft und hatten sich dann durch Verwehungen, in denen ihnen der Schnee bis zu den Knien und der Hüfte reichte, bis zu einem Gebüsch und einer kleinen Baumgruppe weiter unten vorgearbeitet. Cadfael und Reyner folgten den Spuren. Sie führten die Maultiere am Zügel und hielten sich in dem Pfad, den die beiden anderen getreten hatten. Er verlief um das Gebüsch herum und durch die Baumgruppe, deren Äste einigen Schnee aufgefangen hatten. Dahinter, auf einer ebenen Fläche, stießen die beiden Verfolger auf die Spuren von Männern und Pferden, die von Westen nach Osten führten.
Cadfael verfolgte den Lauf der Spuren in östlicher Richtung mit den Augen, bis er sie in der Entfernung nicht mehr ausmachen konnte. Dort senkte sich dieser Weg in das Tal mit den Bächen hinab, aber wenn er dieselbe Richtung beibehielt, mußte er auf der anderen Seite geradewegs in die Wildnis um den Titterstone Clee aufsteigen.
»Haben wir, als wir von der Straße kamen, diese Spuren gekreuzt? Sieh nur, wie gerade sie nach Osten führen! Wir sind von unten gekommen und weiter hinaufgestiegen. Wir müssen sie gekreuzt haben.«
»Aber da haben wir nicht nach solchen Spuren gesucht«, gab Reyner zu bedenken. Hier und dort vermag sie auch der Wind verweht haben.«
»Gewiß, das kann sein.« Vorhin war er nur darauf bedacht gewesen, die Stelle zu finden, wo Schwester Hilaria im Eis gelegen war und hatte dem Boden und irgendwelchen Spuren keine Beachtung geschenkt. »Nun, dann wollen wir sehen, was dies hier ist. Wer immer diese Männer auch waren - sie haben angehalten und einige sind einen Bogen gelaufen, hier, wo die von oben Kommenden aus der Baumgruppe herausgetreten sind.«
»Und hier hat ein Reiter sein Pferd angehalten«, sagte Reyner, der einige Schritte weiter den Boden untersucht hatte.
»Dann hat er sein Pferd gewendet und ist weiter geritten. Und auch die anderen sind weitergegangen. Laßt uns ihnen ein Stückchen folgen.«
Schon nach dreihundert Schritten stießen sie auf den ersten Blutfleck, der den Anfang einer Kette roter Tropfen markierte.
Ein Stückchen weiter leuchtete ihnen der zweite Fleck entgegen, und dahinter setzte sich die Reihe kleiner Tropfen fort. Die Kälte des Schnees hatte die Farbe gut bewahrt. Es war jetzt um Mittag, und das helle Licht des Tages würde nicht mehr lange anhalten, aber jetzt war es hell genug,
Weitere Kostenlose Bücher